Gefährlicher Ernährungstrend: Die „Carnivore Diet“: Essen wie ein Raubtier

Die „Carnivore Diet“ verspricht Wunder: Abnehmen, Muskeln aufbauen, männlicher werden. All das soll durch die Fleisch-Diät möglich sein. Aber Experten schlagen Alarm.

Eine junge Frau sitzt vor einem Teller, darauf liegt ein gigantisches Steak. Es ist medium rare gebraten, Beilagen gibt es nicht. Stattdessen hält die Frau ein imposantes Stück Butter in die Kamera – beißt ab und spült mit einer großen Flasche Rohmilchkefir nach. Für die amerikanische Influencerin Isabella Ma, 24, ist das eine ganz normale Mahlzeit.

Ma, die sich @steakandbuttergal (Steak-und-Butter-Mädchen) nennt, ernährt sich karnivor. Sie isst also ausschließlich tierische Produkte, meist Fleisch, tierisches Fett oder Eier. Auf Mas Speiseplan stehen außerdem: Knochenmark, Rohmilch, Butter, Speck, Tierorgane, Fisch und Meeresfrüchte. Oft roh. Pflanzliche Lebensmittel hat sie seit fünf Jahren aus ihrer Ernährung verbannt. Sie isst weder Obst noch Gemüse, kein Getreide, Hülsenfrüchte, Nüsse oder Samen. 

„Carnivore Diet“: Meatfluencerinnen scharen Follower um sich

Das Interesse an der „Carnivore Diet“, also Fleisch-Diät, steigt. Allein im vergangenen Jahr wuchs das Google-Suchvolumen für den Begriff um 87 Prozent. Isabella Ma ist nicht die Einzige, die sich dieser restriktiven Ernährungsform verschrieben hat. Die Followerzahlen der „Meatfluencer“ nehmen stetig zu. 

Die Fleisch-Diät sei gesund für Körper und Geist, behauptet der amerikanische Arzt Shawn Baker. Der ehemalige Chirurg hat 2019 ein Buch über die tierbasierte Ernährung geschrieben. Darin preist er ihre angeblich heilende Wirkung. Die hohe Proteinaufnahme helfe beim Muskelaufbau und beim Abnehmen. Der Testosteronspiegel steige, und die Diät lindere sogar chronische Krankheiten von Rheuma über Asthma bis Parkinson. Baker präsentiert sich gern als lebender Beweis seiner Theorie: oberkörperfrei, muskelbepackt, betont maskulin. Er selbst will sein chronisches Erschöpfungssyndrom mit Steaks kuriert haben. 

Gesunde Ernährung Weltherztag 11.01

Den Hamburger Ernährungsmediziner Matthias Riedl überzeugt das nicht.  „Die Carnivore Diet ist ein alter Hut. Sie ist eine Wiederbelebung der Paleo-Diät.“ Grundlage für beide Ernährungsformen sei die Idee, zu essen wie die Menschen in der Steinzeit. Diese vermeintlich ursprüngliche, kohlenhydrat- und ballaststofffreie Ernährung unserer Vorfahren sei das Optimum für den menschlichen Körper, werde da behauptet. „Hier wird es ungenau“, sagt Riedl. „Sprechen wir von der frühen oder der späten Steinzeit? Wo auf der Welt? In Ägypten oder in Europa?“ Die Ernährung von Steinzeitmenschen sei sehr unterschiedlich gewesen, je nachdem, was gerade verfügbar gewesen sei. 

Die Fleisch-Diät beruht auf einer Lüge

Dem US-Anthropologen Herman Pontzer zufolge konnte sich die Menschheit überhaupt nur als Gruppe von „opportunistischen Allesfressern“ entwickeln. In seinem Buch „Burn“ schreibt Pontzer: „Der Mensch isst, was verfügbar ist, und das ist fast immer eine Mischung aus Pflanzen und Tieren.“ Von einer einheitlichen Steinzeiternährung auszugehen, ist also unwissenschaftlich.

Nicht alles an der karnivoren Ernährung ist schlecht. „Dass sie keine hoch verarbeiteten und zuckerhaltigen Produkte enthält, ist grundsätzlich gut“, sagt Riedl. Mit den hohen Mengen an Fleisch und tierischen Produkten werden aber so viele tierische Fette aufgenommen, dass das Entzündungsniveau im Körper steigen könne und damit das Risiko für Autoimmunkrankheiten, Typ-2-Diabetes, Arteriosklerose und Krebs.

Wer sich wochenlang nur von Steak und Rohmilch ernährt, dürfte bald entzündete Gelenke bekommen. Fleisch enthält sogenannte Purine, die im Körper zu Harnsäure abgebaut werden. Steigt die Harnsäurekonzentration im Blut, kann das zu schmerzhaften Gichtanfällen führen, weil sich überschüssige Harnsäure in den Gelenken ablagert.

Welche dramatischen Folgen die Fleisch-Diät hat, zeigt Isabella Ma in einem ihrer Videos. Stolz erklärt sie, sie habe einen Cholesterinwert von 365. Zum Vergleich: Als gesund gilt ein Wert von maximal 200. Beunruhigt ist Ma davon nicht – im Gegenteil: „Menschen mit einem hohen Cholesterinspiegel bekommen kein Alzheimer, weil unser Gehirn Fett liebt“, heißt es im Voiceover des Videos. Ernährungsexperte Matthias Riedl ist geschockt: „Solche Aussagen sind reines Geschwurbel. Ein Cholesterinwert von 365 ist alles andere als harmlos. Es ist ein lebensverkürzendes Drama.“ Desinformation und Querdenkerei seien im Ernährungsbereich aber leider weit verbreitet, sagt Riedl.

Erst fit, dann dünn, dann krank

Besonders beliebt unter Meatfluencern: rohes Fleisch. So soll der Körper besser von den enthaltenen Nährstoffen profitieren. Es stimme, dass hitzeempfindliche Vitamine wie Vitamin B1 oder B5 sowie bestimmte Enzyme in rohen Lebensmitteln intakter bleiben, sagt Riedl. Der Verzehr von rohem Fleisch, Eiern und Rohmilch berge aber das Risiko von lebensmittelbedingten Erkrankungen durch hochgefährliche Bakterien wie Salmonellen oder E. coli. „Deshalb würde ich dringend davon abraten, diese Lebensmittel roh zu essen.“ Vor allem für Schwangere und immunsupprimierte Personen sei das gefährlich. 

Ein Baustein gesunder Ernährung fehlt ohne Pflanzen völlig: Ballaststoffe. „Es drohen Verstopfung und vergrößerte Hämorrhoiden, das Darmkrebsrisiko steigt, und sogar das Risiko für Autoimmunkrankheiten kann zunehmen“. Auch Vitamine C und einige B-Vitamine, Magnesium und verschiedene Antioxidantien werden ohne Gemüse im Körper knapp – und das Immunsystem leidet. 

Interview Maya Leinenbach 14.10

Viele karnivore Influencer erzählen, wie sie Gewicht verlieren, Muskeln aufbauen und sich fit fühlen. Wie kann das sein? Ernährungsmediziner Riedl hat eine Vermutung. Wer auf pflanzliche Lebensmittel verzichtet, nimmt auch keine sogenannten FOMAPs mehr zu sich. Eine Gruppe von Kohlenhydraten und Zuckeralkoholen, die Darmprobleme auslösen können. Und wer statt Kohlenhydraten sattmachende Proteine zu sich nimmt, nimmt ab. „Ein hoher Eiweißverzehr fördert auch den Durst, was ebenfalls bei der Sättigung hilft“, sagt Riedl. 

Rein karnivore Ernährung ist trotzdem eine schlechte Idee – selbst für kurze Zeit. „Sie verstößt gegen nahezu alle Leitlinien und Empfehlungen der Fachgesellschaften“, sagt Riedl. Auch aus einer umwelttechnischen und ethischen Perspektive ist sie mehr als problematisch.

Das musste auch der Arzt Paul Saladino einsehen. Als „Carnivore MD“ war er bekannt geworden. Gerade erklärte er in einem Podcast, dass er die Fleisch-Diät nach zwei Jahren wegen Herzproblemen, Muskelkrämpfen und einem gesunkenen Testosteronspiegel aufgeben musste. Auf seinem Instagram-Kanal beschreibt er seitdem seine neue Diät als „tierbasiert“. Dazu gehören Fleisch, Organe, Rohmilch und Honig, zählt Saladino auf. Und: Obst.