Merle steht vor einer schwierigen Wahl: Ihre Beziehung funktioniert gut, bietet ihr ein beständiges Leben auf hohem Niveau. Aber wenig Gefühl. Die Affäre mit einem verheirateten Familienvater ist dagegen voller Emotionen. Gibt es eine faire Lösung?
Liebe Frau Peirano,
vor 26 Jahren habe ich mich völlig unerwartet und unglücklich in meinen damaligen stellvertretenden Chef verliebt. Unerwartet, weil sich ein knappes Jahr zuvor meine erste große Liebe das Leben genommen hatte und ich nicht daran geglaubt habe, dass ich mich je wieder verlieben würde. Unglücklich, weil er zum einen mein Vorgesetzter war, außerdem 15 Jahre älter, verheiratet, zwei Kinder. Zudem suchte er wieder heimatnah (ca. 250 km entfernt) einen Job, was ihm auch etwa ein halbes Jahr später gelingen sollte.
Schon damals war mir klar, dass da von beiden Seiten mehr ist, aber aus besagten Gründen und der Angst vor Zurückweisung (das hätte ich in meinem labilen Zustand damals einfach nicht verkraftet), habe ich ihm nie meine Gefühle gestanden. Wir hielten sporadisch Kontakt, bei jedem Anruf, jeder Karte oder Mail von ihm schlug mein Herz bis zum Hals. Irgendwann habe ich erfahren, dass er zum zweiten Mal verheiratet ist und erneut zwei Kinder bekommen hat. All das war jeweils – obwohl Jahre später – wie ein Stich ins Herz.Peirano: Eltern trinken und entwickeln sich nicht 20.32
Einige Jahre später habe ich mich in meinen heutigen Partner Tim verliebt, der einige Jahre jünger als ich ist. Mittlerweile sind wir fast 18 Jahre zusammen, nicht verheiratet, keine Kinder, aber gemeinsam haben wir finanziell einiges erreicht.
Vor etwa 2,5 Jahren haben dann Jonas und ich wieder einmal geschriebenen, es wurde daraus ein beständiger, täglicher und sehr vertrauter Austausch. Ich habe ihm dann gesagt, dass ich damals unsterblich in ihn verliebt und untröstlich war, als er ging. Er hat mir gestanden, dass es ihm ähnlich ging, aber ich so jung war und er es deshalb gelassen hat.
Nun ist das Ganze natürlich sowas wie eine (emotionale) Affäre, Sex spielt zwangsläufig eine sehr untergeordnete Rolle, ehrlicherweise aufgrund mangelnder Gelegenheiten. Wir schaffen es kaum dreimal im Jahr, uns zu treffen. Jonas ist sehr gefühlsbetont, dadurch kommt meine emotionale Seite auch stark zum Vorschein und ich weiß mittlerweile, was mir in meiner jetzigen Beziehung seit vielen Jahren fehlt.
Tim und ich haben so gut wie alles, nur liebevolle Gefühle sind eher Mangelware. Wir verstehen uns, können lachen und funktionieren als erfolgreiches „Geschäfts-Team“, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er je gesagt hätte, dass er mich liebt.
Mir ist natürlich klar, dass es nicht ewig so bleiben kann und ich mich irgendwann entscheiden muss, was mir jedoch sehr schwer fällt. Ich möchte auf Jonas nicht mehr verzichten, aber auch nicht auf die Unabhängigkeit meines jetzigen Lebens.
Jonas würde seine Familie sofort für mich verlassen. Nur bin ich realistisch und überzeugt, das wäre kein Zuckerschlecken. Seine Frau hat vor etwa einem Jahr schon mal Wind von uns bekommen, was die Sache zusätzlich erschweren würde. Die Kinder sind 12 und 14, das macht es nicht einfacher, ebenso natürlich das sonstige Umfeld. Ich habe ihm schon mehrmals gesagt, dass ich Angst habe, dass unsere Liebe den „äußeren Einflüssen“ nicht standhalten könnte, er sieht das absolut nicht so. Davon abgesehen habe ich mein rationales Denken natürlich nicht gänzlich abgelegt und weiß, dass auch die 15 Jahre Altersunterschied nicht ohne sind, mein Leben ein komplett anderes wäre, ich mich u.a. nach den Kindern richten müsste und ich viele Vorteile, die ich derzeit habe, nicht mehr hätte. Über eine kleine Hilfestellung würde ich mich sehr freuen!
Ganz lieben Dank
Merle T.
Liebe Merle T.,
es hört sich für mich so an, als wenn Sie nicht nur zwei völlig unterschiedliche Liebesgeschichten mit völlig unterschiedlichen Männern führen, sondern auch in Ihnen zwei völlig unterschiedliche Persönlichkeitsanteile regieren.
Der eine Teil ist eher rational, hat es gerne komfortabel und pragmatisch, geordnet – und vielleicht ist dieser Teil insgeheim auch ganz zufrieden damit, dass in Ihrer langjährigen Beziehung mit Tim keine allzu großen und leidenschaftlichen Gefühle im Spiel sind. Ist Ihnen dieser Gedanke schon einmal gekommen? BIo Julia Peirano
Ich kann mir vorstellen, dass Sie den Suizid Ihres damaligen Freundes als schweren Vertrauensbruch erlebt haben. Er hat Sie durch den Suizid endgültig verlassen, und wahrscheinlich hat er Ihnen vorher nichts davon erzählt (sonst hätten Sie es ja verhindert). Das ist eine unglaublich traumatische Art, jemanden zu verlieren.
Vielleicht wollten Sie danach lieber auf Nummer Sicher gehen, und Tim bot Ihnen das in seiner rationalen, verlässlichen Art. Er scheint ein guter Gefährte zu sein, und Sie beiden sind ein gutes Team.
Ihre Gefühle für Jonas waren jahrelang eher auf einer Fantasie-Ebene und wurden dadurch nicht real und bedrohlich. Vielleicht war das sogar eine Art emotionaler Blitzableiter?
Und seit über zwei Jahren hat die emotionale Seite in Ihnen sich Gehör verschafft. Sie haben sich aus Ihrem emotionalen Schneckenhaus heraus gewagt und lassen große Gefühle zu – und das geht wahrscheinlich besser, weil auch Jonas jemand ist, der Gefühle zeigen kann.
Doch jetzt, nach 2,5 Jahren, will Ihre rationale Seite wissen, wie es weiter geht. Da wird klar: Die Gedanken an eine Zukunft mit Jonas lösen bei Ihnen starke Ängste aus. Das kann ich gut verstehen! Ich habe ähnliche Prozesse begleitet, und sie waren meistens über Jahre sehr belastend und zermürbend für alle Beteiligten.
Wenn Jonas seiner Frau offenbart, dass er sich von ihr trennen will und mit Ihnen leben möchte, wird es emotional hoch hergehen. Und wahrscheinlich werden seine Kinder Sie dafür verantwortlich machen, die Familie zerstört zu haben. Durch Jonas’ Belastung wird wahrscheinlich auch Ihre Beziehung (die bisher auf wenigen Treffen außerhalb des Alltags beruht) schwer in Mitleidenschaft gezogen. Es könnte sein, dass er dann noch weniger Zeit und Aufmerksamkeit für Sie hat als jetzt schon.
Ich kann mir auch vorstellen, dass es dann mit Ihrem geordneten, komfortablem, vorhersehbaren Leben schnell vorbei wäre. Und damit wäre auch Ihr ordnungsliebender Persönlichkeitsanteil, der hart daran gearbeitet hat, sich das Leben genau so zu gestalten, nicht zufrieden.
Wie wäre es denn, wenn Sie erst einmal das Naheliegende machen, sich ein Herz fassen und mit Tim über Ihre Beziehung reden würden? Empfindet er es genau so wie Sie, dass Ihre Beziehung wenig liebevoll ist? Möchte er etwas daran ändern?
Wäre er möglicherweise bereit, die Beziehung zu öffnen und es zu akzeptieren, dass beide auch erotisch oder seelisch für andere offen sind? Vielleicht wäre es zumindest für Sie nicht die schlechteste Lösung, mit offenen Absprachen beide Männer in Ihrem Leben zu haben.
Denn wenn Sie sich für einen Mann entscheiden, würde wahrscheinlich in Ihrem Inneren große Unruhe ausgelöst. Ihren ruhiger, pragmatischer Persönlichkeitsanteil würde das Leben in Jonas` Scherbenhaufen zur Verzweiflung treiben, und Ihr sehnsüchtiger, emotionaler Persönlichkeitsteil verkümmert an Tims Seite und sehnt sich nach mehr Liebe.
Allerdings müsste Jonas dann auch schauen, ob er seine Beziehung öffnen kann oder ganz bewusst Ihre Beziehung weiter heimlich führt – zumindest bis die Kinder aus dem Haus sind. Das klingt nach einer sehr belastenden und schwierigen Situation. Aber die Alternativen – nämlich entweder einen Kontaktabbruch von Ihnen beiden oder eine Trennung von seiner Frau und Zerstörung der Familie – sind auch keine einfachen Optionen.
Ich hoffe, dass ich Ihnen etwas Klarheit bringen konnte. Schwierig wird es auf jeden Fall erst mal bleiben.
Herzliche Grüße
Julia Peirano