Völlig überraschend trat Katja Wolf im Januar dem BSW bei – jetzt will sie gegen den Willen von Sahra Wagenknecht mit CDU und SPD koalieren. Was treibt sie an?
Es ist der Montagnachmittag dieser Woche, im Raum 202 des Thüringer Landtags, als Katja Wolf einen der schwersten Momente ihrer Karriere durchlebt. Seit mehreren Stunden debattiert die von ihr geführte Fraktion des Bündnis Sahra Wagenknecht den finalen, mit CDU und SPD verhandelten Kompromiss zu Krieg und Frieden.
Zum dritten Mal hat Wolf eine neue Variante vorgelegt. Zum dritten Mal reicht sie dem zugeschalteten Bundesvorstand nicht. Auch die Vorsitzende ist aus der Ferne dabei. Wagenknecht klingt hörbar ungehalten.
Kurz vor 16 Uhr warten Mario Voigt und Georg Maier, die Landesvorsitzenden von CDU und SPD, vor dem Saal, in dem Wolf mit Wagenknecht kämpft. Die BSW-Landeschefin hat zuletzt nicht mehr auf SMS reagiert, und jetzt drängt die Zeit.
Die Intervention der Parteivorsitzenden
Was sollen sie bloß tun? In wenigen Minuten soll auf der anderen Seite des Gebäudes die gemeinsam verabredete Pressekonferenz stattfinden. Mehrere Fernsehteams haben dort ihre Kameras aufgebaut, etwa 20 Journalisten warten auf die Verkündung der Einigung. So bekommen sie von dem Drama in ihrer Nähe nichts mit.
Selbst für thüringische Verhältnisse ist die Situation grotesk. Aus dem BSW-Fraktionssaal dringen laute Stimmen, als sich Voigt und Maier zur Intervention entschließen. Es wird an die Tür geklopft, Wolf tritt heraus – und trifft eine Entscheidung: Sie wird gemeinsam mit ihrem Co-Vorsitzenden Steffen Schütz und den anderen beiden Landesparteichefs vor die Presse treten. Jetzt gleich. Ohne Beschluss von Landesvorstand und Landtagsfraktion. Ohne das Einverständnis Wagenknechts.
So wie im Januar, als sie in BSW wechselte, geht Katja Wolf ins Risiko.
Kurz danach steht sie zwischen den drei Männern im Licht der Scheinwerfer. Ihr blasses Gesicht wird durch das schwarze Jackett kontrastiert. „Sie sehen mich nicht völlig entspannt“, sagt sie; die vergangenen Tage hätten „Spuren hinterlassen“. Doch man handele aus „tiefer Verantwortung für Thüringen„.
Geboren in der DDR, die Eltern in der SED
Wer ist die Frau, die Abgeordnete und Oberbürgermeisterin war und dann plötzlich die Linke verließ? Die Frau, die stets als Pragmatikerin galt und sich dann einem populistischen Bündnis anschloss? Die Frau, die nun Sahra Wagenknecht herausfordert?
Als Wolf 1976 in der DDR-Bezirksstadt Erfurt geboren wurde, herrschte die SED noch mit uneingeschränkter Macht. Ihre Eltern gehörten beide der Staatspartei an. Der Vater arbeitete als Brigadier in einer LPG, die Mutter war Lehrerin.
Im Jahr, als die DDR verging, wurde sie 14 Jahre alt und musste vorzeitig erwachsen werden. Die Familie kämpfte mit der neuen Zeit. Die LPG des Vaters wurde umgewandelt, das Schulsystem drastisch reformiert. Nur unter großen Mühen behielten die Eltern ihre Arbeitsplätze.
Diese Zeit prägte Wolf. Sie hing nicht der Diktatur nach. Doch ihr Bild von Kapitalismus und Marktwirtschaft wurde bestimmt von der Deindustrialisierung Ostdeutschlands, dem Ausverkauf von Grund und Boden, der Übernahme durch westliche Konzerne und Eliten.
Mit 16 trat sie in die Nachfolgepartei der SED ein, die sich nun PDS nannte. Nach Abitur und Sozialpädagogik-Studium in Erfurt zog sie mit 23 in den Landtag ein. Ihr Fraktionschef hieß Bodo Ramelow.
Im Landtag agierte Wolf nie ideologisch und eher unauffällig. Ihre Themen waren Gleichstellung und Umwelt, größere Initiativen oder Reden sind niemandem erinnerlich. Doch die Abgeordnete verstand es, andere für sich einzunehmen, auch in der damals noch allein regierenden CDU. Nebenher gründete sie eine Familie, bekam einen Sohn und eine Tochter.
2009 gewann sie im ihr zugewiesenen Wahlkreis Eisenach das Direktmandat. Und drei Jahre später bewarb sie sich, weil es die Partei so wollte, in der Stadt um den Oberbürgermeisterposten. Dank schwacher Gegenkandidaten gewann Wolf zu ihrer eigenen Überraschung mit knapp 52 Prozent.
Als Oberbürgermeisterin musste Wolf kämpfen
Unfreiwillig muss Wolf politische Verantwortung übernehmen – und kämpfen. Neben die freundliche Pragmatikerin trat jetzt die harte Realpolitikerin Wolf, die zuweilen durchregierte und Feinde sammelte. Oft stand die Mehrheit im Stadtrat gegen sie, einschließlich der eigenen Fraktion. Auch mit ihrer Landespartei, die ab 2014 mit Ramelow den Ministerpräsidenten stellte, haderte sie zunehmend.
Doch nach außen behielt Wolf ihre zugewandte Art. Bei der Mehrzahl der Menschen in der Stadt kam sie an, 2018 wurde sie wiedergewählt. Der Deutsche Städtetag bestimmte sie zur Vizepräsidentin.
Damit wurde Wolf endgültig zum Aushängeschild einer Partei, von der sie sich immer stärker entfremdete. Ob es nun um das chronisch fehlende Geld oder die Flüchtlingssituation in Eisenach ging: Wolf fühlte sich von der Linken im Land allein gelassen, und teilte dies auch öffentlich mit. Erst nach einigem Zögern sagte sie zu, bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2024 noch einmal als Oberbürgermeisterin anzutreten.
Doch es kam anders. Es war um den Jahreswechsel, als der Erfurter SPD-Oberbürgermeister Andreas Bausewein eine Idee mit ihr besprach: Was wäre, wenn sie gemeinsam in die gerade neue gegründete Partei von Sahra Wagenknecht einträten?
Wolf lockte der Neubeginn, zurück in Erfurt, ohne die Kinder, die nun ihren eigenen Weg gingen. Aber sie trieb auch die drohende Hegemonie der AfD um, und die Angst vor einem Ministerpräsidenten Björn Höcke. Dass ihr Wagenknechts Art stets missfallen hatte, dass sie nicht alle, aber doch viele Vorstellungen dieser Frau ablehnte: Das musste egal sein.
War es ein Faustscher Pakt mit Sahra Wagenknecht?
Bausewein und Wolf fuhren nach Berlin zu Wagenknecht, wenig später stand der Plan. Sie würden gemeinsam springen, Hand in Hand. Jedoch, am Abend vor dem vereinbarten Termin sagte Bausewein ab. Nach einer durchwachten Nacht sprang Katja Wolf allein. Mit vollem Risiko.
Und so stand sie Mitte Januar in einem Weimarer Hotel erstmals vor einigen ausgewählten Fotografen und suchte nach dem passenden Gesichtsausdruck, während neben ihr Wagenknecht ihr professionelles Lächeln aufsetzte. Zwei Politikerinnen, die bis dahin nie etwas miteinander anfangen konnten, schlossen ein Zweckbündnis.
Die Linke sprach von Verrat. Ramelow schwankte zwischen Wutanfällen, lautem Klagen und Versöhnungsgesten. Bis Ende Juni amtierte Wolf noch als Oberbürgermeisterin, nebenbei baute sie die neue Landespartei auf, plante den Landtagswahlkampf und zelebrierte Harmonie mit Wagenknecht.
Nebenbei jedoch machte sie die Sollbruchstelle kenntlich. Sie sei „kein Wagenknecht-Fan“, sagte sie, und nein, sie werde auch vermutlich auch keiner mehr. Und: Thüringen benötige eine stabile Regierung jenseits der AfD.
Sahra Wagenknecht hörte genau zu, sie fürchtete um das radikalpopulistische Profil der Partei. Gezielt erhöhte sie die Hürde für Koalitionen, indem sie außenpolitische Bedingungen stellte: Die potenziellen Partner CDU und SPD müssten sich von Waffenlieferungen an die Ukraine und US-Raketen auf deutschem Boden distanzieren. Mindestens für die Union, das war klar, würde dies unmöglich sein.
Bei der Landtagswahl kam das BSW in Thüringen mit 15,8 Prozent auf das beste Ergebnis, mit deutlichem Vorsprung gegenüber Sachsen und Brandenburg. Allerdings war es vor allem ein Sieg auf Kosten der Linken. Ramelows Partei schrumpfte von 31 auf 13,1 Prozent – und die AfD legte zu, kam auf fast ein Drittel der Wähler. Für eine Koalition des BSW mit CDU und SPD reichte es nur zum Patt.
Dies war der gemeinsame Erfolg von Wagenknecht und Wolf. Doch schon am Wahlabend deutete sich der Bruch an. Die Bundesvorsitzende, die eigens nach Erfurt angereist war, zog in den Interviews für die großen Sender die Anti-Raketen-Linie nach, während sich ihre Landeschefin ausschließlich konstruktiv gab. Sie wolle alles für ein stabiles Thüringen tun, sagte sie.
Damit hatte sich ein antagonistischer Interessenkonflikt aufgebaut, in der beide Seiten ihre Instrumente besitzen. Wagenknecht will die Marke „Friedenspartei“ schützen und so ihre Partei in den Bundestag führen. Sie nutzt ihre Deutungshoheit über ihre Partei, um das Profil der fundamentaloppositionellen Protestpartei zu bewahren. Wolf hingegen will regieren, und ja, es geht ihr dabei auch ums Land. Zumindest bislang kontrolliert sie die 15 Sitze im Landtag und besitzt das formale Verhandlungsmandat.
Die Kollision war programmiert. Als Wolf nach sechs Wochen ein Sondierungspapier mit CDU und SPD vorlegte, ging Wagenknecht rabiat dazwischen: Vor Koalitionsverhandlungen müssten die außenpolitischen Bedingungen erfüllt sein, dekretierte sie.
Nach außen hin beugte sich Wolf. Intern blieb sie streng auf Regierungsbildungskurs. Sie verhandelte einen Formelkompromiss zu Ukraine und Raketen, der die BSW-Positionen neben jene von CDU und SPD stellte. Das Ergebnis wurde in Friedensrhetorik verpackt.
Wagenknecht, unter deren Anleitung gerade das BSW in Brandenburg die SPD zu einem Nein zu US-Raketen gebracht hatte, wurde davon überrumpelt. Gemeinsam mit mehreren Vorständlern versuchte sie am Montag, die Verkündung der Einigung zu stoppen. Doch dann klopften Maier und Voigt an der Tür.
Seitdem hat sich der Machtkampf zur offenen Feldschlacht entwickelt. Wagenknecht schickte ihren Schatzmeister Ralph Suikat und die Parlamentarische Geschäftsführerin Jessica Tatti mit einem Gastbeitrag bei „t-online“ vor. Das Sondierungspapier, schrieben sie, erfüllt nicht ansatzweise die Ansprüche des BSW und seiner Wähler. Der Text endet mit einer indirekten Austrittsforderung an Wolf: „Wer das nicht kapiert, wird vielleicht schnell Ministerin, ist aber in unserer Partei falsch“.
Der Angriff ist koordiniert. Wagenknechts Generalsekretär Christian Leye soll nach Informationen des stern die kleine Landesbasis von gut 80 Mitgliedern bearbeiten und war Dienstag und Mittwoch in Erfurt.
Parallel dazu wird Wolf auf breiter Front persönlich attackiert, aus dem Bundesvorstand sowieso, aber auch aus der Europafraktion, anderen Landesverbänden und natürlich allen sozialen Kanälen. Wieder gilt sie als Verräterin.
Wagenknecht eskaliert systematisch. Aber sie gefährdet damit auch sich selbst. Längst geht es nicht mehr nur um das Profil der Partei. Es geht inzwischen auch um ihre Autorität.
Die Vorsitzende setzt offenkundig darauf, dass sie bis zum Landesparteitag, der einem Koalitionsvertrag final zustimmen müsste, eine Mehrheit der Thüringer Mitglieder gegen Wolf organisieren kann. Dann bliebe der Landeschefin wohl nur der Rücktritt und dem BSW die Opposition – aus der heraus die Fraktion, vielleicht, eine CDU-geführte Minderheitsregierung dulden würde, während rechtsaußen Höckes AfD für Mehrheiten bereitstünde.
Das Bundesvorstand schaltete sich Mittwochabend zusammen, um das Ultimatum an den Thüringer Landesverband zu bekräftigen. Sofern CDU und SPD nicht bereit seien, „sich in den für uns wichtigen Fragen zu bewegen, sollten wir darauf verzichten, in eine gemeinsame Regierung einzutreten, und unsere Wahlversprechen aus der Opposition voranbringen“, heißt es in dem Beschluss. Zudem wurden, wie Wagenknecht dem stern bestätigte, auf der Sitzung neue Thüringer Mitglieder durch den Bundesverband aufgenommen, nachdem dies eine längere Zeit trotz Drängen aus Thüringen nicht möglich war.
Dass die Vorsitzende am Ende doch noch eine Regierung in Thüringen billigen könnte, gilt aus jetziger Sicht als ausgeschlossen. Es sei „leider nicht davon auszugehen, dass am Ende der Koalitionsverhandlungen ein gutes Ergebnis stehen wird“, sagte sie dem stern. „Wir haben in Brandenburg einen guten Kompromiss in der Frage von Krieg und Frieden erzielt. Das wäre auch in Thüringen möglich gewesen, wenn die Verhandlungsführer von Beginn an verdeutlicht hätten, dass wir an diesem Punkt unsere Wahlversprechen einlösen müssen.“
Katja Wolf aber macht unbeirrt weiter. Am Dienstag hatten Landesvorstand und Fraktion formal ihren Willen bekräftigt, die Verhandlungen aufzunehmen. Der Beschluss fiel ohne Gegenstimmen, bei wenigen Enthaltungen. Danach wurden die Arbeitsgruppen benannt, die zwei Wochen lang beraten sollen.
„Wir nehmen die Verantwortung ernst, die uns die Wählerinnen und Wähler übertragen haben“, sagte Wolf. Sie geht, mal wieder, ins Risiko.