Pflege: Wie Japan mit seiner alten Bevölkerung umgeht

Japan hat mit die älteste Bevölkerung der Welt. Was macht das mit der Gesellschaft? Fotografin Noriko Hayashi hat sich auf Spurensuche begeben.

Auf der japanischen Insel Shikoku gibt es ein Bergdorf, im Winter zugeschneit, auch im Sommer nicht einfach zu erreichen. Dort lebt nur noch eine einzige Bewohnerin: die über 90-jährige Toshie Ueno. Sie hat nie geheiratet, ihre Nachbarn sind nach und nach weggezogen oder gestorben. Die Seniorin aber wollte nie woanders hin – und sie will es auch jetzt nicht. „Ich habe schon so lange an diesem Ort gelebt, ich habe mich dran gewöhnt. Deshalb möchte ich nicht umziehen“, sagt sie.

Sie verbringt ihre Zeit mit Gartenarbeit und mit ihren 15 Katzen, fährt noch selbst mit dem Auto ins Tal, um Einkäufe zu erledigen. Und hin und wieder bekommt sie Besuch: Verwaltungsmitarbeiterinnen der nahe liegenden Stadt Miyoshi kümmern sich um Toshie. Sie werden bezahlt, um alten Menschen wie ihr Gesellschaft zuleisten.

Das ist keine Seltenheit, sondern eine Maßnahme, mit der Japan auf eine riesige Herausforderung reagiert: Die Inselnation hat weltweit mit die älteste Bevölkerung. Jede vierte Person in Japan ist 65 Jahre alt oder älter – und das Innenministerium prognostiziert, dass es 2060 schon nahezu 40 Prozent der Menschen sein werden. Und seit etwa 50 Jahren bereits ist die Geburtenrate in dem asiatischen Land niedriger, als sie sein müsste, um die Bevölkerungszahl zu erhalten (das wären durchschnittlich 2,1 Kinder pro Frau): Die Rate liegt derzeit bei 1,2.

Anders als in Deutschland wandern kaum Menschen nach Japan ein. Auf 1000 Einwohner kommen in Japan etwa 25 Ausländer und Ausländerinnen. Zum Vergleich: In Deutschland sind es mehr als sechsmal so viele. Dass Japan altert, zeigt sich in allen Lebensbereichen, im Großen wie im Kleinen: Die Zahl der allein lebenden Senioren nimmt zu; die Sozialausgaben steigen – wie auch die Verkaufszahlen für Erwachsenen-Windeln. Wie also geht eine Gesellschaft damit um, wenn sie immer älter wird? Wie kann man den vielen Alten ein möglichst würdevolles Leben ermöglichen, sie nicht allein lassen? Wie schaffen es einige, mit 70, 80 oder sogar 90 Jahren ihre Erfüllung zu finden? Welche neuen Technologien erleichtern den Alltag? Die Fotografin Noriko Hayashi hat sich in ihrem Heimatland auf die Suche gemacht nach besonderen Menschen, Dingen und Orten, die Antworten auf die Fragen geben.

Japan und seine Orte der Erfüllung

Einer der Orte ist die Farm von Kiyotaka und Imiko Suzuki in der Präfektur Saitama. Sie sind 70 und 69 Jahre alt und seit fast 50 Jahren verheiratet. Genauso lange arbeiten sie auf ihren Feldern und ihrem Hof: täglich zehn Stunden. So ernten sie pro Jahr 45 Tonnen Lauch. Das Ehepaar gehört zu den 80 Prozent der japanischen Landwirte, die über 60 Jahre alt sind.

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Die Arbeit der Suzukis ist körperlich sehr anstrengend, Imiko kämpft schon seit Jahrzehnten mit Wirbelsäulenproblemen. Aufhören aber kann und will sie nicht. Das Ehepaar möchte weitermachen, „am besten noch die nächsten zehn Jahre“. Und dank einer relativ neuartigen Technologie werden sie ihren Betrieb wohl länger erhalten können, als ihre Körper es eigentlich zugelassen hätten. Seit drei Jahren schnallen die Suzukis sich bei der Arbeit jeweils ein „Exoskelett“ um, ein futuristisch anmutendes Gestell, das ein wenig aussieht wie ein flacher Campingrucksack. Es entlastet den Rücken bei Hebebewegungen.

Eine hohe Arbeitsmoral allein löst aber keinen Arbeitskräftemangel – und der ist in Japan nicht nur in der Landwirtschaft spürbar. Auch die Pflege hat ein großes Problem, Stellen zu besetzen. 2020 hat das japanische Gesundheitsministerium deshalb acht sogenannte Lebenslabore gestartet, wo Technologien entwickelt werden, die Pflegekräfte entlasten.

Im Altersheim in Amagasaki kommt beispielsweise bei Patienten mit Demenz ein Kommunikations-Roboter zum Einsatz – sein Gesicht ähnelt dem eines Menschen, er hat die Größe eines Kleinkindes und wird von Pflegekräften remote gesteuert. So etwa bei der 89-jährigen Kazuko Kori: Sie ist nicht immer ansprechbar und kann viele Menschen nicht mehr erkennen. Wenn sie aber mit dem kleinen Roboter spricht, sagen die Pflegekräfte, dann spricht sie manchmal zu ihrer Mutter und teilt persönliche Geschichten. Die dementen Menschen erleben in dem Moment eine Art Gesellschaft.

Fumie Takino hat sich selbst einen außergewöhnlichen Ort für Gemeinschaft geschaffen – und er glitzert gold-rot-silbern. Vor bald 30 Jahren, mit 63, gründete sie in Tokio ein Cheerleading-Team, nur für Seniorinnen: „Japan Pom Pom“ heißt es. Noch immer ist sie die Leiterin des Teams, sie tanzt einmal die Woche drei Stunden lang in Glitzerkostüm und mit puscheligen Pompons in der Hand. Fumie glaubt, dass alte Menschen genau das machen sollen, worauf sie Lust haben, dass auch sie ein Hobby brauchen. Und sie glaubt, dass sie wegen des Trainings in ihrem hohem Alter noch so fit ist: „Ich fühle mich körperlich und mental gesund“, sagt sie.

Auch bei anderen Sportteams ist ein höheres Alter die Aufnahmebedingung: etwa bei den zahlreichen Fußballmannschaften für Senioren – die Mitglieder müssen über 70 Jahre alt sein. Einmal im Jahr findet ein nationales Turnier statt. Und dass der älteste Triathlet der Welt aus Japan kommt, ist sicherlich kein Zufall. Hiromu Inada hat mit Mitte 80 noch einen Ironman absolviert: rund vier Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren, 42 Kilometer Laufen – und es in weniger als 17 Stunden geschafft.

Nach ihrer Reise durchs Land kann die Fotografin Noriko Hayashi sich gut vorstellen, dort alt zu werden. Denn in hohem Alter brauche man vor allem drei Dinge, sagt sie: „Selbstwertgefühl, einen Sinn im Leben und eine Gemeinschaft.“ All das hat sie in Japan gefunden.