Für Sahra Wagenknecht ein Affront: In Thüringen ist sich BSW-Landeschefin Katja Wolf mit CDU und SPD einig, nicht einig zu sein – und trotzdem zu regieren.
Es war der 28. Oktober 2024, um 16.06 Uhr, als vier sichtliche erschöpfte Menschen vor die Kameras und Mikrofone traten. Zehn Tage hatten sie darüber verhandelt, wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zu beenden sei. Und sie hatten darüber gestritten, ob US-Mittelstreckenwaffen auf deutschen Boden stationiert werden sollen.
Es handelte sich bei den vieren nicht um die Präsidenten von Atommächten oder doch wenigstens um die führenden Vertreter der Bundesregierung. Nein, es waren die thüringischen Landesvorsitzenden von CDU, BSW und SPD, die im Erfurter Landtag ihre weltumspannenden Statements abgaben. Sahra Wagenknecht Interview
Denn um eine Koalition eingehen zu können, die Politik für gut zwei Millionen Menschen in der ländlichen Mitte Deutschlands machen soll, mussten sie über Krieg und Frieden reden. So verlangte es die BSW-Führung in Berlin als Bedingung für eine Regierungsbeteiligung in Thüringen, aber auch in Sachsen und Brandenburg.
So verlangte es vor allem die autokratisch agierende BSW-Vorsitzende, die der Partei ihren Namen gegeben hat: Sahra Wagenknecht.
Referat der unterschiedlichen Positionen
Das, was dabei nun in Erfurt herausgekommen ist, kann ihr nicht gefallen. Denn die drei Parteien vermeiden das von ihr seit Monaten ultimativ geforderte Nein zu Waffenlieferungen und US-Raketen. Stattdessen referieren sie an den entscheidenden Stellen ihre unterschiedlichen Positionen.
Im Englischen sagt man dazu: Agree to disagree (auf Deutsch: „sich einig sein, nicht einig zu sein“).
Beispielhaft dafür ist dies Passage: „CDU und SPD sehen sich in der Tradition von Westbindung und Ostpolitik. Das BSW steht für einen kompromisslosen Friedenskurs.“ Und: „Wenngleich wir hinsichtlich der Notwendigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine zur Verteidigung ihrer territorialen Integrität und Souveränität unterschiedlicher Auffassungen sind, eint uns das Ziel, eine diplomatische Lösung des Krieges gegen die Ukraine […] voranzutreiben.“
Zur Raketenfrage wird erklärt, dass Thüringen als deutsches Bundesland „in eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur“ eingebettet und dass die „Verteidigungsfähigkeit unseres Landes“ für den Frieden „von großer Bedeutung“ sei. Die Kritik an der Stationierung wird als bloße Mehrheitsmeinung der Umfragen zitiert: Und dieser Sicht werde eine künftige Landesregierung eine „öffentliche Stimme“ verleihen.
In Brandenburg hat Sahra Wagenknecht sich durchgesetzt
Das ist deutlich weicher formuliert als die Einigung, die am Montagmorgen die Brandenburger Verhandlungspartner von SPD und BSW verlautbart hatten. Darin heißt es nach der Forderung nach einem Waffenstillstand in der Ukraine: „Wir sehen vor diesem Hintergrund die geplante Stationierung von Mittelstrecken- und Hyperschallraketen auf deutschen Boden kritisch.“
Damit hatte es Wagenknecht tatsächlich geschafft, dass sich der Brandenburger SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke von seinem SPD-Kanzler öffentlich distanziert. Denn es war Olaf Scholz, der die Stationierung mit den USA verhandelt hatte.
In Thüringen hingegen war dies nicht durchsetzbar. Das lag nicht allein an CDU-Landeschef Mario Voigt, der die von seinem Parteivorsitzenden Friedrich Merz gezogene Linie beachten musste. Es lag auch an einer Landes-SPD, die unter Georg Maier nie an ihrer Solidarität gegenüber der Ukraine zweifeln ließ.
Das wusste Wagenknecht, die sowieso erkennbar keine Lust an einer wackeligen, nur auf einem Patt beruhenden Koalition hatte – und dies auch noch mit der CDU, die sich außenpolitisch sich völlig anders positioniert. Sie fürchtet um ihre strategische Ausgangsposition für die Bundestagswahl, die sie mit dem Label „Friedenspartei“ bestreiten will.
Deshalb mischte sich Wagenknecht von Anfang in die Verhandlungen ein – und blockierte vor zehn Tagen persönlich den Beginn von Koalitionsverhandlungen. Zuerst müsse die Friedensfrage geklärt sein, verfügte sie. Danach begann sie systematisch, die CDU zu attackieren. Am Ende warf sie Merz sogar vor, Russland den Krieg erklären zu wollen.
Bis zum Wochenende schien es, als habe die Zermürbungstaktik Erfolg. Doch dann geschah etwas, was sich länger angedeutet hatte. Die Thüringer Landeschefin Katja Wolf, die schon in der PDS eine Realpolitikerin war, emanzipierte sich endgültig vom Diktat aus Berlin: Sie verkündete die Einigung gemeinsam mit Voigt und Maier – und dies offenkundig, ohne zuvor Wagenknechts Einverständnis einzuholen. „Eine formale Zustimmung ist nicht vorgesehen“, sagte sie auf Nachfrage, ob denn die Bundesführung mit dem Inhalt des Papiers mitgehe.
Das ist durchaus bemerkenswert. Ja, es geht den Beteiligten in Erfurt um Gestaltungsmacht, Einfluss und Posten. Das ist das Wesen von Politik. Aber es geht ihnen offenkundig auch um das Land, in dem sie leben, während es Wagenknecht insbesondere als Vehikel für ihre bundespolitischen Ambitionen betrachtet.
„Wir stehen hier in einer tiefen Verantwortung für Thüringen“, sagte BSW-Landeschefin Wolf und sah dabei recht blass aus. Denn während sie das sprach, tagte noch ihr Landesvorstand. Die Gespräche mit Berlin dürften noch hart werden, zumal das, was in Erfurt geeint wurde, nun die Vorlage für die Verhandlungen zwischen CDU, BSW und SPD in Dresden sein dürfte. Es sei „ein Fehler“ gewesen, „sich nicht an dem in Brandenburg gefundenen Kompromiss zu orientieren“, erklärte Wagenknecht gegenüber dem „Spiegel“.
An diesem Dienstag sollen die Koalitionsverhandlungen in Erfurt beginnen. Doch selbst wenn dies geschieht, bleibt das Konstrukt ein Wagnis, das jederzeit scheitern könnte.