Olaf Scholz stellt ein SPD-Herzensprojekt infrage: das Lieferkettengesetz. Oder? Die Verwirrung in der Kanzlerpartei ist groß – ebenso der Unmut.
Ist das Lieferkettengesetz nun sozialdemokratische Kunst – oder kann es weg? Olaf Scholz hat die Frage kürzlich so beantwortet: „Das kommt weg.“ Doch was nach Kanzler-Klartext klingen soll, sorgt in der SPD für Verwirrung, Kopfschütteln, Widerstand. Denn Scholz stellt mit seiner Aussage beim Arbeitgebertag vergangene Woche ein Herzensprojekt seiner Partei infrage, und das alles nur, um sich bei der Wirtschaft beliebt zu machen?
„Das deutsche Lieferkettengesetz wirkt und muss deshalb weiterentwickelt und nicht abgeschafft werden“, fordert nun Tim Klüssendorf im stern. „Bewährte Standards einfach auszusetzen, wäre unverantwortlich.“ Klüssendorf, Sprecher der Parlamentarischen Linken (PL) in der SPD-Bundestagsfraktion, ist mit seinem Unmut nicht allein. Auch Jan Dieren, Chef der parteilinken Strömung DL21, erklärte gegenüber dem stern, es gebe „keinen Grund“, das deutsche Lieferkettengesetz auszusetzen.
Wieder hat Scholz also Ärger mit seiner Partei. Aber was war eigentlich passiert? Der Bundeskanzler hatte am vergangenen Dienstag vor der versammelten deutschen Wirtschaft Entlastungen von Bürokratie zugesichert. „Das haben wir ja gesagt, das kommt weg“, sagte er dabei mit Blick auf das deutsche Lieferkettengesetz, das an bevorstehende neue EU-Regelungen angepasst werden soll. Zuvor hatte sich der Kanzler einen Schlagabtausch mit Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger geliefert.
Mehrfach habe man darum gebeten, das Gesetz entweder zu lockern oder außer Kraft zu setzen, beklagte Dulger. Passiert sei allerdings nichts. „Dieses Jahr noch“, versprach Scholz dann, solle es reformiert werden. Ganz bestimmt. „Ich glaube Ihnen das, wenn die Tinte trocken ist und es bei mir auf dem Lieferschein steht“, meckerte der BDA-Chef. Es war wie so oft: Fühlt sich Scholz unfair behandelt oder unverstanden, wird er flapsig – und ungenau.
Was in dem Wortgefecht unterging: Was genau kommt dieses Jahr noch weg? Das ganze Gesetz? Nur Teile davon? Seine Partei rätselt seither genauso wie die Wirtschaft.
Die Unsicherheit in der SPD ist seither groß
Hintergrund der Debatte sind neue europäische Regeln. Das deutsche Lieferkettengesetz soll an die Europäische Lieferkettenrichtlinie – sozusagen das EU-Lieferkettengesetz – angepasst werden. Dieses wurde gerade verabschiedet. Die EU-Staaten haben nun gut zwei Jahre Zeit, die neuen Regeln in nationales Recht umzusetzen. Unternehmen müssen umfangreiche Berichte abgeben und sollen zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn sie von Menschenrechtsverletzungen wie Kinder- oder Zwangsarbeit profitieren. Noch mehr Bürokratie, ächzte die Wirtschaft. Die Bundesregierung hatte deshalb in ihrer „Wachstumsinitiative“ angekündigt, unverhältnismäßige Belastungen für Unternehmen zu vermeiden. Die Europäische Lieferkettenrichtlinie solle so bürokratiearm wie möglich umgesetzt werden. Meint das der Kanzler mit: „Das kann weg“?
Regierungssprecher Steffen Hebestreit musste am Tag nach Scholz‘ Disput mit dem Arbeitgeberpräsidenten mal wieder hinterherfeudeln. Hebestreit sagte, ab Anfang 2025 sollen Firmen in Deutschland keine Auflagen des deutschen Lieferkettengesetzes mehr erfüllen müssen, die über die geplante EU-Richtlinie hinausgehen. Die Bundesregierung sei darüber einig, einzelne besonders weitgehende Regelungen des deutschen Gesetzes auszusetzen, damit deutsche Unternehmen nicht stärker belastet werden als die europäische Konkurrenz. Wenn man so will, sollen die alten deutschen Lieferkettenregeln also tatsächlich weg. Oder, wie es Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vor einigen Wochen sagte: „Kettensäge anwerfen und das Ding wegbolzen“.
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Die Unsicherheit in der SPD ist seither groß, schließlich ist das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – wie es in formvollendetem Juristendeutsch heißt – ein Herzensprojekt der Sozialdemokraten.
„Das Lieferkettengesetz ist ein bisschen zum Symbol für überbordende Bürokratie geworden“, beklagt Sebastian Roloff, Mitglied im SPD-Parteivorstand und Wirtschaftsexperte seiner Partei. Das sei schade, sagte er dem stern, denn im Grundsatz „stehen hoffentlich alle hinter der Idee“. Klammer auf: auch der Kanzler. Der Sprecher der Parlamentarischen Linken, Tim Klüssendorf, betont: „Faire Lieferketten sind mehr als ein Vorteil im Wettbewerb – sie sind ein Beitrag zum Schutz von Beschäftigten und zu einer gerechteren Weltwirtschaft.“
„Ein klassischer Scholz“
Der neue SPD-Generalsekretär, Matthias Miersch, hatte selbst noch im Sommer für eine deutlich härtere Version der später beschlossenen EU-Lieferkettenregelung geworben. Der frühere Chef der SPD-Linken versucht in seiner neuen Rolle, zu beschwichtigen, die Ansage des Kanzlers einzuordnen. „Unsere Wirtschaft trägt Verantwortung dafür, dass Menschenrechte entlang ihrer Lieferkette eingehalten werden“, sagte Miersch dem stern. Das regle das Lieferkettengesetz. „Was es allerdings nicht braucht, sind ein konkurrierendes deutsches und ein europäisches Lieferkettengesetz.“ Das habe Scholz deutlich machen wollen. „Die Diskussion, wie wir Unternehmen entlasten können, ist richtig“, meint Miersch.
Allerdings: Von einer Abschaffung oder einem „Das kann weg!“ ist bei Generalsekretär Miersch keine Rede. „Wir reden jetzt darüber, wie sich das Lieferkettengesetz möglichst effizient und zielgenau umsetzen lässt“, sagte Miersch. Da sei es vom Kanzler „völlig legitim“, die deutschen Regeln auf den Prüfstand zu stellen. Wichtig sei doch, so Miersch, „dass in ganz Europa dieselben Anforderungen gelten“.
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Mit seiner Flapsigkeit, so wird in der Partei getuschelt, habe der Kanzler der SPD mal wieder ein bis zwei Eigentore eingeschenkt. Einerseits beerdigte Scholz mal eben ein Vorzeigeprojekt der SPD und gab dessen Kritikern so im Nachhinein recht, andererseits versprach er Dinge, die kaum einzuhalten sein werden. Am Ende bleiben Enttäuschte auf allen Seiten. „Das war ein klassischer Scholz. So gewinnen wir keine Wahl mehr“, sagt ein Sozialdemokrat.
In der SPD spricht man inzwischen lieber von einer Weiterentwicklung der deutschen Regeln. Statt „bewährte Standards“ im deutschen Lieferkettengesetz auszusetzen, fordert PL-Sprecher Klüssendorf eine „zielgenaue und bürokratiesparsame europarechtskonforme Anpassung“, welche die Unternehmen dort in die Pflicht nehme, wo sie tatsächlich Einfluss hätten. Für SPD-Vorstandsmitglied Roloff gehe es jetzt darum, „die europäische Lieferkettengesetzgebung pragmatisch und bürokratiearm umzusetzen“ – das werde einen positiven Effekt haben.
Jan Dieren, Sprecher der DL21, betont: „Unternehmen in Deutschland tragen Verantwortung für die Menschen, die entlang ihrer Liefer- und Produktionsketten arbeiten.“ Dieser Verantwortung gebe das deutsche Lieferkettengesetz einen rechtlichen Ausdruck, deshalb ist sei es „so wichtig“, wie Dieren sagt.
Klingt alles mehr nach „Kunst“ als nach „kann weg“. Nicht die allerbeste Nachricht für den Bundeskanzler kurz vor Scholz‘ eigenem Industriegipfel am Dienstag.