Arbeitsforscherin: Feiern die Deutschen gerne krank?

Die Zahl der Krankschreibungen ist auf Rekordniveau. Konzernchefs wettern gegen die Faulheit der Deutschen. Eine Expertin entgegnet: Häufig sind die Unternehmen selbst Schuld.

Der Krankenstand in Deutschland hat in diesem Jahr ein neues Rekordhoch erreicht und das bereits im August – lange vor der Grippesaison. Jetzt haben wir Oktober. Feiern die Deutschen gerne krank?
Nein, das ist eine weit hergeholte Überspitzung ohne jegliche Grundlage. Erstens hatten wir in diesem Sommer tatsächlich mehr Atemwegserkrankungen als sonst. Zweitens finde ich die Behauptung, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fauler werden, schlicht überzogen und frech. Es ist eine Beleidigung für alle, die jeden Morgen früh aufstehen, um ihrer Arbeit nachzukommen. Vor allem ist das Thema viel zu komplex, als dass man einfach von gestiegenen Krankenständen auf „Faulheit“ der Beschäftigten in Deutschland schließen könnte.

Trotzdem ist der Krankenstand hierzulande seit den Corona-Jahren nachweislich im Aufwärtstrend. 
Das hat auch mit einer statistischen Verzerrung zu tun, die durch die digitalisierte Weitergabe von Krankmeldungen zustande kommt. In der Statistik kann man den sprunghaften Anstieg der Krankschreibungen von 2022 auf 2023 gut erkennen. Seitdem werden die Krankmeldungen automatisch von den Arztpraxen an die Krankenkassen weitergeleitet, was vorher für die Beschäftigten freiwillig war und oft nicht gemacht wurde. Eigentlich haben wir nach Jahren der Untererfassung erst jetzt realistische Krankenzahlen. 

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Seit fast einem Jahr können sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch telefonisch krankschreiben lassen. Ist die Hürde gesunken, sich krankzumelden?
Bei einigen könnte die Hemmschwelle dadurch gesunken sein. Und ja, wir haben in Deutschland auch eine vergleichsweise großzügige soziale Absicherung im Krankheitsfall. Eine Krankmeldung führt etwa nicht automatisch zu Lohnausfall. In anderen Ländern mit weniger sozialen Regelungen wie Großbritannien oder der Türkei liegt die Hemmschwelle sicherlich höher. Allerdings ist die Arbeit in Deutschland stark effizienzgetrieben organisiert, und die Personaldecke in den Betrieben oft dünn. Die meisten Arbeitnehmer fühlen sich verantwortlich, Leistung zu erbringen und die Arbeitsabläufe im Unternehmen am Laufen zu halten – auch weil sie wissen, dass bei Fehlzeiten die Kollegen den Ausfall über Mehrarbeit kompensieren müssen. Damit sind die persönlichen Hürden sich krankzumelden oftmals höher als es auf den ersten Blick erscheint.

Warum ist der Krankenstand dann so hoch?
Das ist schwierig zu beantworten und betrifft mehrere Ebenen. Zunehmende Digitalisierung und Fachkräftemangel sind charakteristisch für die heutige Arbeitswelt. Dadurch steigen die Anforderungen an die Beschäftigten: Sie müssen zusätzliche Aufgaben übernehmen, es kommt zu Arbeitsverdichtung, Multitasking und Mehrarbeit. Ein weiterer Grund ist die wirtschaftliche Rezession. In vielen, vor allem produzierenden Unternehmen herrscht große Unsicherheit. Oft ist die Auftragslage schlechter als erwartet und der Druck, effizienter und produktiver zu arbeiten, wächst. Solche Unsicherheiten können für die Beschäftigten psychisch belastend sein und sich auf Arbeitszufriedenheit und Betriebsklima auswirken.

Bio Elke Ahlers

Und das macht krank?
Ja, natürlich. Wer etwa fehlende Personalkapazitäten durch Mehrarbeit ausgleichen muss, lässt womöglich Pausen ausfallen, ist angespannter und hat insgesamt ein höheres Stresslevel. Dadurch sinkt auch die Erholungsfähigkeit, die Menschen können weniger gut schlafen. Das kann sich psychosomatisch auf alle möglichen Krankheiten auswirken. Nicht zu psychische Leiden können eine Folge sein, sondern auch häufigere Erkältungen, Rückenschmerzen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Um dauerhaft leistungsfähig zu bleiben, braucht es eine gute Balance zwischen dem Arbeitsengagement auf der einen Seite und ausgleichender Erholung auf der anderen.

Gibt es noch andere Gründe für den hohen Krankenstand in Deutschland?
Im Vergleich der OECD-Staaten ist der Anteil älterer Arbeitnehmer in Deutschland überdurchschnittlich hoch, und gerade in dieser Beschäftigtengruppe fallen krankheitsbedingte Fehlzeiten oft länger aus als bei Jüngeren. Außerdem gibt es mehr junge Eltern, die arbeiten, unter Doppelbelastung stehen und sich wegen kranker Kinder oder geschlossener Kitas öfter krankmelden müssen. Hier erkennt man einen Teufelskreis. Gerade auch im Gesundheitswesen sind die Beschäftigten extrem belastet. Wenn die jetzt hören, die Deutschen würden immer fauler, ist das für sie wie eine Ohrfeige. 

Was dein Chef darf, wenn du krank bist 18.45

Mittlerweile haben sich die Chefs großer deutscher Unternehmen zu Wort gemeldet. Ola Källenius von Mercedes-Benz sagte etwa, dass der Krankenstand hier doppelt so hoch sei wie im europäischen Ausland und sich das langsam zum Nachteil für Deutschland als Wirtschaftsstandort entwickle. Hat er recht?
Ich würde gerne wissen, auf welche Statistiken er sich da bezieht. Ein so eindeutiger Befund ist mir nicht bekannt. Aus meiner Sicht ist der Krankenstand auch kein Nachteil für den deutschen Wirtschaftsstandort, sondern eher ein Indiz für Schwächen in der langfristigen Personalplanung, Fachkräftesicherung und Gewährleistung guter Arbeitsbedingungen. Schließlich sind Unternehmen auch selbst dafür verantwortlich, ihre Beschäftigten gesund zu halten und den Druck nicht übermäßig zu steigern. Wir haben in Deutschland viele Probleme, vom Fachkräftemangel bis zu fehlenden Investitionen. Den kranken Mitarbeitern die Schuld für den schwächelnden Wirtschaftsstandort zuzuschieben, ist einigermaßen unverschämt. 

Ist also nicht der Krankenstand für die schwache Wirtschaft verantwortlich, sondern die schwache Wirtschaft für den Krankenstand?
Beides gehört zusammen. Rückblickend war der Krankenstand bisher immer dann niedrig, wenn es der Wirtschaft schlecht ging. Die Leute hatten Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, und sind im Zweifel krank zur Arbeit gegangen. Der Unterschied zu heute ist, dass es keine Massenarbeitslosigkeit gibt und ein großer Teil der Arbeitnehmer weniger Angst davor hat, den Arbeitsplatz zu verlieren. Das macht die Beschäftigten selbstbewusster.

Auch der Chef des Versicherers Allianz Oliver Bäte monierte, dass die Deutschen viel mehr Krankentage hätten als Beschäftigte in den USA oder der Schweiz. Deutschland hat auch in der EU die höchsten Ausgaben für Krankentage. Wären etwas strengere Regeln wirklich so schlimm?
Ja, das wäre ein Rückschritt in den Arbeitnehmerrechten und ginge in die völlig falsche Richtung. In der heutigen Zeit geht es darum, die Mitarbeiter zu binden, indem man attraktive Arbeitsbedingungen schafft. Die Regelung, dass man zum Beispiel den ersten Krankentag nicht bezahlt, würde den Druck in der Arbeitswelt nur weiter erhöhen. In Unternehmen mit einer vorausschauenden Personalpolitik und einer Unternehmenskultur, in der sich die Beschäftigten wohler und in ihrer Leistung anerkannter fühlen, sind die Krankenstände niedriger.