Die Luft ist dünn, der Mythos gewaltig: Unsere Autorin ist in die Schweiz gefahren, um auf den Spuren von Thomas Mann wandeln. Ein Besuch im kurzen Sommer in Davos.
So muss er gelegen haben, denke ich. Schräg fällt die Sonne auf den Balkon, auf meine mit einer Decke umwickelten Beine. Die Liege ist aus Bambus, die Lehne halb erhöht. Über den Bergrücken stehen bauschige Wolken, als warteten sie darauf, mir meine Gedanken abzunehmen. Ich muss sie nur loslassen. Schwalben stürzen lautlos in die Tiefe, steigen auf, stürzen ab, immerzu. Nichts als der wandernde Schatten verrät mir, dass die Zeit verstreicht. Stunden haben sie so verbracht, denke ich. Die Gesundenden und Todgeweihten und jene, die um sie bangten. Auch er, Hans Castorp. Auch er wird auf baumlose Bergrücken geschaut haben, die unverändert dort liegen und vom Ewigen erzählen. Bis ein Arzt durch die Seitentür trat, den Puls fühlte, plauderte.
Nach Davos bin ich gereist, in die höchstgelegene Stadt Europas und noch ein wenig höher, zur Schatzalp auf 1861 Metern. Mit der Standseilbahn habe ich den weißen Jugendstilbau erreicht, Postkartenmotiv seit langer Zeit. Zimmer 209 habe ich bezogen und nach Luft gerungen auf der Treppe. Sie ist dünn, ich muss mich an sie gewöhnen wie einst Hans Castorp, dem ich hierher gefolgt bin. Hundert Jahre ist es her, dass der Schriftsteller Thomas Mann seinen Romanhelden zur Liegekur auf den „Zauberberg“ schickte. Ins Mekka der Schwindsüchtigen, wie Davos beworben wurde, in die Hauptstadt der Tuberkulosekranken. Wer etwas Geld besaß, reiste an und nahm sich ein Zimmer in einem der Sanatorien. So wie Katia Mann, die sich im nahe gelegenen Waldsanatorium erholte. Die Thomas Mann besuchte, 1912, und den Tuberkulosetourismus beobachtete, den ihm seine Frau schon in Briefen geschildert hatte.
Schwer wiegen die mehr als tausend Seiten, von denen wir alle gehört, nicht alle gelesen haben. Sie erzählen von Hans Castorp, der als junger Mann nach Davos reist, um für drei Wochen seinen tuberkulosekranken Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen. Er bleibt sieben Jahre. Verfängt sich in der Tagesordnung des Sanatoriums, wird unpässlich und wieder gesund, verliebt sich in eine Patientin. Sonderlich sind die Gestalten, denen er begegnet, mit denen er lange politische und philosophische Gespräche führt, es ist ein Bildungsroman.
Hanglage: Terrasse des Restaurants „Snow Beach“
© Patrick Slesiona
Eher mittelmäßig wirkt dieser Held, den ich trotzdem gern dabei beobachte, wie er sich der Welt im Flachland entfremdet. Ich bewege mich auf seinen Spuren, will herausfinden, was heute vom Mythos des „Zauberbergs“ zu spüren ist. Scheint doch nichts so aktuell, wie sich seiner körperlichen und geistigen Gesundheit zu widmen, abgeschieden vom Rest der Welt. In einem zugewandten Umfeld; heute würde es wohl Retreat genannt. Losgelöst von Werktagen, vom Broterwerb, frei in der eigenen Entfaltung. So ein Versprechen wirkt utopisch. Ein Zauber eben, eine Idee, die bis heute über den Bergrücken zu schweben scheint: Komm hoch, rufen Gipfel, dann wirst du sehen.
Arm, aber gesund
Vielleicht mal weniger romantisieren, begreife ich neben Peter Flury, einem 76-jährigen Arzt im Ruhestand, der mich nach meiner Ankunft durchs Medizinmuseum führt. Davos konnte lange nichts versprechen, es war bäuerlich und arm. Nur waren die Menschen eben nicht lungenkrank, eine Beobachtung des deutschen Arztes Alexander Spengler, der sie verbreitete. Und weil Ende des 19. Jahrhunderts jeder siebte Europäer an Tuberkulose starb, war Spenglers Beobachtung, auch wenn er sie nicht erklären konnte, eine Sensation. Bald schon kamen die ersten Gäste, wurden Sanatorien gebaut, und die Schwindsüchtigen legten sich auf die Liegen und kurten.
Arzt Peter Flury im Medizinmuseum mit einem alten Röntgenbild
© Patrick Slesiona
Peter Flury sagt: Heute wissen wir, die Sonne war’s. Sie hat geholfen. Sie ist unabdingbar für die Bildung von Vitamin D, und das ist nötig für unser Immunsystem. Und die Luft natürlich, trocken, ideal für Pollen- und Hausstauballergiker.
Schritte durch den kleinen Raum mit großen Geräten, die daran erinnern, dass Menschen sich fürchteten, litten und hofften. Die Sehnsucht nach Gesundung trieb sie her, nicht der Zeitvertreib. Auf einem der Tische liegt eine Schere, so groß wie zum Beschneiden eines Apfelbaums. Mit ihr haben die Ärzte Rippen entfernt, um die Lunge zu therapieren. Ein Pneumothorax-Apparat steht dort, eine Glasflasche mit Schlauch und langer Hohlnadel, mit der Luft in den Thorax eingeführt wurde. An der Wand hängen Röntgenbilder voller unheilvoller Schatten, die man damals anfertigen und deuten lernte. Vielleicht wichtigstes Utensil war ein Spucknapf aus blauem Glas für den ansteckenden Auswurf. Requisiten einer Zeit, in der es stets morgen vorbei sein konnte. In der heftig gelebt und genauso heftig gestorben wurde.
Auch ein Spucknapf ist hier ausgestellt
© Patrick Slesiona
Das große Sterben ist vorbei
Mit dem Bobschlitten befördern sie von der Schatzalp ihre Toten herunter, erklärt der Vetter Hans Castorp im „Zauberberg“, als der gerade mit der Bahn in Davos angekommen ist. Und Castorp lacht sich das Unbehagen aus dem Leib.
Aber das große Sterben ist vorbei seit der Erfindung von Penicillin zu Beginn der 1940er-Jahre. Die Sanatorien schlossen oder wurden zu Hotels umgebaut. In Davos wird nun Ski gefahren. Gewandert. Die Weltwirtschaft geregelt. Ein Kongresszentrum wurde gebaut, in dem seit 1971 jährliche Treffen stattfinden, bekannt als Weltwirtschaftsforum. Für diese Tage putze sich die Stadt heraus, heißt es, und dekoriere die Auslagen neu, die jetzt müde blinzeln. Eher Kleinstadtmode als Hermès. Wanderausrüstung, Cafés.
Ich laufe die Promenade entlang und biege links ab, wo die Schatzalpbahn auf mich wartet. Vier Minuten braucht sie zum ehemaligen Sanatorium. Bis heute rätseln „Zauberberg“-Fans, welches der Häuser Thomas Mann als Vorlage für seinen fiktiven Berghof diente. Wo sich der Speisesaal befindet, in dem Madame Chauchat die Tür hinter sich zuschlagen ließ, um auf sich aufmerksam zu machen und Hans Castorp für sich einzunehmen. Ist es der Saal der Schatzalp? Oder der im Waldsanatorium? Doch eine zufallende Tür bringt mir den Mythos nicht näher, denke ich, während ich zum Terrassenrestaurant der Schatzalp gehe. Ich setze mich. Katzen streichen vorbei. Vielleicht muss ich nur eine Weile hier oben bleiben, um den Zauber verorten zu können.
Der Zeit entrückt
Stühle in Hussen, weiß wie die Tischwäsche. Die Türen zur Küche sind mit Gold beschlagen. Links schwingt es sich hinein, rechts wieder hinaus, und eine Abendmahlzeit lang denke ich, es müsste doch umgekehrt sein. Zwischen den Gästen läuft Udo Berber hin und her. Er ist Chef des Service, seit zehn Jahren. Vielleicht auch seit elf, er weiß es nicht. Jedenfalls lebt er länger als Hans Castorp hier oben, in einem ehemaligen Gästezimmer, das Fenster zur Bergseite.
Im Jahr 1954 wurde das Sanatorium zum Berghotel umgebaut, auch die Rezeption stammt aus dieser Zeit
© Patrick Slesiona
Und, frage ich ungestützt, sind Sie der Zeit entkommen, Sie wissen schon, wie Castorp? Aber Berber ist abgelenkt. Schauen Sie mal, sagt er und blickt durch hohe Fenster auf zartrosa Wolkenschleier: Märchenwolken. Der Herbst kommt, das Gras auf den Berghängen ist schon braun.
Einige der hundert Angestellten leben wie Udo Berber auf der Schatzalp, in einem der Zimmer, die 1954 unverändert blieben, als das Luxussanatorium zum Hotel umgebaut wurde. Es sind Zimmer ohne Bad, und nachts, erzählt Berber, wenn er über den Gang muss, wirft er sich eben einen Bademantel über. Ein Jahr hat der heute 54-Jährige mal im Tal gearbeitet, bis ihn der Hoteldirektor Paulo Bernardo wieder nach oben holte. Berber erinnert sich an Tränen bei der Rückkehr, so froh war er damals. Weil sie hier ein gutes, ein eigenartiges Team seien und weil er hier eine Ruhe habe. In den Bergen, sagt er, verändert sich ständig sein Blick auf die Welt, alle 150 Meter.
Sauber, Berg! Ein Wanderweg führt von der Schatzalp zum Waldhotel, in dem einst Katia Mann kurte
© Patrick Slesiona
Warmer Holzboden, weiße Kassettentüren, Zimmer 209 ist schlicht. Luxus, erfahre ich, bezog sich auf der Schatzalp auf den Außenbereich. Mag sein, dass die Patienten sommers draußen geschlafen haben. Ich ziehe mein Bett vor und träume klar, bis mich fremdes Husten weckt. Wasser rauscht in den Leitungen. Ich muss an Hans Castorp denken, der in den ersten Nächten im Berghof, wie Thomas Mann sein Sanatorium nannte, ein „Ringen, Kichern und Keuchen“ hört, den Sex eines russischen Nachbarpärchens. Für ihn erschütternd. Die Apparaturen im Bad wie in alten Filmen, geschwungenes Chrom vor mintgrünen Kacheln. Fremd sind mir die Handgriffe, die so eine alte Armatur erfordert.
STERN PAID 28_24 Magischer Ort_1330
Wo Traum und Wirklichkeit verschwimmen
Ob die Wirtschaftslenkenden sich auch im Sitzen duschen? In der Standseilbahn stelle ich mir vor, zwischen internationalen CEOs in Anzügen nach unten zu fahren. Auch sie nächtigen auf der Schatzalp während des Weltwirtschaftsforums. Ob sie dort oben wie ich eine leichte Verschiebung der Wirklichkeit spüren? Einen feinen Riss, in dem sich das Tatsächliche und Traumhafte ineinanderschieben? Könnte sein, dass bald eine der Katzen auf der Schatzalp die Rezeption besetzt, während Kellner im Bademantel über die Flure huschen und der Direktor das hoteleigene Postamt wieder in Betrieb nimmt. Ob sie bemerken, dass oben mehr möglich ist als unten?
Bergblick: Auch wer kein Hotelgast ist, kann im hauseigenen Restaurant „Belle Epoque“ speis
© Patrick Slesiona
An der Promenade steige ich in den Bus 301 und sitze zwischen Menschen in Funktionskleidung, denen in den Kurven die Stöcke wegrutschen. Wie sie will ich wandern, schwitzen und auf schneebedeckte Gipfel starren. Einmal noch umsteigen, dann hat mich die 310 nach Monstein gebracht, in ein jahrhundertealtes Walserdorf mit Häusern aus dunklem Holz. Ich folge den Schildern Richtung Jenisberg, das ich drei Stunden später erreiche. Langsame Schritte auf steilen Wegen durch Wald, vorbei an Farn, Moos, wilder Heidelbeere. Ich raste an einer Felsnase und erkenne Davos in der Ferne, die Schatzalp als weißen Punkt am Berg.
Dort oben lässt Thomas Mann seinen Helden auf Skiern über Pulverschnee sausen, mutig setzt er sich einer „tödlich lautlosen Winterwildnis“ aus. Hans Castorp umarmt seine Angst, bevor er in einen kolossalen Schneesturm gerät. Sich der Natur zu unterwerfen und anzuerkennen, dass sie schön, aber eben gefährlich ist, gehört zum Mythos des „Zauberbergs“. Daran gemahnen die steilen Hänge ringsum und das Wetter. Kurz sind die Sommer in Davos, lang die Winter mit Schnee bis in den Juni hinein. Auch das verändert die Menschen in der Höhe. So nah an den Wolken scheint es, als wehte jedes meteorologische Ereignis unmittelbar in die Seele hinein. Nein, denke ich, Davos braucht keine literarische Überhöhung.
Der Abstieg mit wunden Zehen. Aber dann hält am kleinen Bahnhof Wiesen die Rhätische Bahn, ein historischer Zug verkehrt zwischen Davos Platz und Filisur. Ich steige ein und vergesse den Schmerz.
Eigenwillige Persönlichkeiten
Tradition als Geschäftsmodell: Hoteldirektor Paulo Bernardowill das historische Haus nicht verändern, nur erhalten
© Patrick Slesiona
Aprikosenkuchen, die geschundenen Füße reglos unterm Tisch höre ich dem Hoteldirektor Paulo Bernardo zu. Vom historischen Haus mit seinen 92 Gästezimmern spricht er. Davon, dass er es erhalten, nicht aber verändern wolle. Speise- und Konversationssaal sehen aus wie vor 100 Jahren und sollen die Gäste auf eine Zeitreise einladen, so sagt er das. Seit 13 Jahren lebt Paulo Bernardo, der in Deutschland aufgewachsen ist, hier oben in dem Haus, in dem die Standseilbahn ankommt. Weg will er nicht, der 43-Jährige wirkt glücklich. Vielleicht hat er sich wie Hans Castorp von der allgemeinen Zeitrechnung verabschiedet und bewegt sich im „Achtlos-Ewigen“?
Vielleicht solle er das nicht sagen, antwortet Bernardo, und sagt es doch: dass er das Gefühl habe, die Angestellten seien wie die Patienten. Sie blieben Jahre, teilten Mahlzeiten und überhaupt das Leben, während die Gäste als Besucher kämen und gingen. Bernardo stellt sich jetzt vor, er schriebe „gesund entlassen“ in die Arbeitszeugnisse und lacht. Ich sehe den Kellner Udo Berber vor mir und seine hochgewachsenen Kollegen. Die Gärtner, die Töpfe mit Kräutern wässern, die Rezeptionistinnen zwischen den Katzen und dem umherwandernden Bastl, mit seinen 85 Jahren ältester Schatzalpbewohner. Eigenwillige Persönlichkeiten sind es, von der Höhe geschliffen wie Kiesel vom Meer.
Die Schatzalp in der Schweiz
© Patrick Slesiona
Blues beim letzten Abendessen. In ein paar Tagen, sagt Udo Berber, soll es schneien. Weg ist er. Lässt mich allein mit einer Nachricht, die im Berghof einen Abend lang alle Figuren beschäftigt hätte: Der erste Schnee im Oktober, wird er uns des Herbstes berauben, der Wärme, der Farben?
Doch niemand schaut aufs Wetter. Stattdessen fallen am Nebentisch mir vertraute Namen. Madame Chauchat, Settembrini, Naphta und Hans Castorp. Sie berühren mich, als meinten sie Verwandte. Warum sprecht ihr über sie, höre ich mich fragen. Wir sind ein Buchklub, antwortet ein Mann aus der Gruppe. Ich nicke. Gerade will ich vom Schnee erzählen, da fällt mir ein: Sie sind doch eben erst angereist und denken noch, der Zauberberg sei ein Roman.