Die Selbstfürsorge kommt bei Beate U. zu kurz. Ihr Leben spielt sich größtenteils bei ihrem Freund ab und Beate vermisst ihr Umfeld. Was kann sie tun?
Liebe Frau Peirano,
ich bin 51 und habe zwei erwachsene Kinder (23 und 20), die in anderen Städten leben. Nach dem Auszug der Kinder habe ich mich etwas einsam gefühlt, aber dann relativ bald Jens kennengelernt, mit dem ich seit fast zwei Jahren zusammen bin. Er lebt in einer schönen Doppelhaushälfte im Grünen mit seinem Hund Charlie, der für ihn eine riesige Rolle spielt. Ich wohne in einer 1,5-Zimmer-Wohnung ohne Balkon in einem Randgebiet einer Stadt. Die Entfernung zwischen unseren Wohnungen beträgt ungefähr 30 Minuten.
Es hat sich jetzt aus verschiedenen Gründen so entwickelt, dass ich fast immer zu ihm fahre. Er hat mehr Platz, wohnt in der Nähe eines Waldes, kann den Hund so besser versorgen (ich darf keine Tiere in meiner Wohnung halten). Das heißt, dass ich fast jedes Wochenende bei ihm bin und dann noch in der Woche 1 bis 2 Tage, auch wenn ich Homeoffice mache.Peirano Oktober 4
Am Anfang habe ich mir nichts dabei gedacht und Jens gerne geholfen. Ich habe sein Haus dekoriert, sodass es ihm nun viel besser gefällt. Ich habe mir ein kleines Zimmer bei ihm eingerichtet, wenn ich mich mal zurückziehen will.
Doch in den letzten Monaten komme ich immer mehr ins Grübeln. Ich habe schon viel Zeit mit seinen Nachbarn, seinen Geschwistern und deren Partnern, seiner Mutter, seinen Freunden verbracht. Ich finde die zum Teil nett, zum Teil sind sie mir aber auch etwas zu einfach. Ich interessiere mich für Kultur und Literatur, sein Umfeld spielt Karten und guckt Sportschau. Aber für mich ist das normal, dass man auch das Umfeld seines Partners kennenlernt und sich da einbringt.
Jetzt haben meine Freunde sich beschwert, dass ich kaum noch Zeit für sie habe. Ich war früher in einer Pilates-Gruppe bei mir im Stadtteil, aber das schaffe ich nicht mehr, da ich an den Wochenenden immer bei Jens bin. Er hat meine Kinder genau einmal gesehen und kann nicht wirklich mitreden, wenn ich mir Sorgen um sie mache oder etwas Schönes über sie erzähle. Meine Tochter lernt recht viele Männer über Tinder kennen und hat relativ schnell Sex mit ihnen und wird nach ein paar Wochen wieder verlassen. Jens hat nur so etwas Oberflächliches geäußert wie. „Sie ist ein hübsches Mädchen, aber sie sollte sich nicht so freizügig anziehen.“Peirano Oktober 3
Mein Sohn nimmt sein Studium nicht so ernst und ist zweimal durch eine wichtige Prüfung gefallen. Dazu meinte Jens, ich solle strenger sein. Er hat dann schnell das Thema gewechselt und kam auf seine Neffen und deren Studium zurück.
Ich habe schon überlegt, ob es gut wäre, wenn ich bei Jens einziehe. Er ist da etwas zögerlich und hat es mir noch nicht angeboten. Aber ich habe auch Angst, dass ich dann gar kein eigenes Leben mehr habe. Ich muss meinen Tag nach den Spaziergängen mit dem Hund ausrichten, nach seinen gewohnten Essenszeiten und Spielregeln in seinem Haus, mich auf Jens und seine Menschen einstellen, und dabei verliere ich mich selbst etwas.
Mich würde mal interessieren, was Sie darüber denken und wie ich das vielleicht anders machen könnte.
Herzliche Grüße
Beate U.
Liebe Beate U.,
als ich Ihre Beschreibung über Ihr Zusammenleben gelesen habe, kam mir ein Vergleich mit einem Garten in den Sinn. Stellen Sie sich einmal vor, das Leben jedes Menschen wäre ein persönlicher Garten. Dann könnte man bei einigen Familien einen liebevoll gepflegten, gemütlichen Garten sehen, mit Sandkiste und Schaukel für die kleinen Kinder, einer Bank unter einem Baum für die Erwachsenen und die Großeltern, langen Tischen zum gemütlichen Zusammensein mit Essen und vielleicht auch Rückzugsräumen für jeden, der Ruhe möchte.
Manche Menschen hätten vielleicht eine Art Müllhalde in ihrem Garten, bei anderen gäbe es nur Kies statt Pflanzen, damit es schön ordentlich und pflegeleicht ist. Die Gemütlichkeit bliebe dabei auf der Strecke.
Wie sah Ihr persönlicher Garten (also Ihr Lebensraum) aus, bevor Sie Jens kennengelernt haben? Vielleicht können Sie einmal in die Zeit zurückgehen, als Ihre Kinder noch bei Ihnen gelebt haben, und dann in die Zeit nach deren Auszug. Wie sah Ihr Garten jeweils aus? Und war es der Garten, den Sie sich gewünscht haben oder hat Ihnen etwas gefehlt?
Es gibt ja viele Singles, die ihren Garten nach ihren eigenen Vorstellungen anlegen und sich darin sehr wohlfühlen: eine kleine Ecke für die Yogamatte, ein gemütlicher Tisch zum Essen, Schreiben, Lesen und für schöne Gespräche, ein gemütlicher Ruheplatz (Hängematte, Liegestuhl) und bunte Blumenbeete. Wer sich in seinem eigenem Garten (eigenen Leben) nicht wohlfühlt, sollte sich Gedanken machen: Woran liegt das? Was fehlt mir? Was für Aktivitäten würde ich gerne in meinem Garten machen, wen möchte ich dahin einladen? Wie pflege ich den Garten, sodass er gesund und üppig aussieht?
Wenn Sie damit fertig sind, können Sie sich ja auch einmal Jens’ Garten vorstellen: Sowohl bevor er Sie kennengelernt hat als auch jetzt. Wahrscheinlich läuft in seinem Garten ständig der Hund herum und alles ist nach dessen Bedürfnissen ausgerichtet. Wie fühlen Sie sich in Jens‘ Garten? Gibt es genug Raum für Sie, finden Sie Ruhe, sind auch Ihre lieben Menschen dort willkommen? Nehmen Sie sich mal Zeit für dieses Gedankenspiel.
Die Selbstfürsorge darf nicht zu kurz kommen
Überlegen Sie auch einmal, wessen Garten (Leben) von Ihrer Beziehung mehr profitiert hat. Haben Sie viel Energie in Jens‘ Garten/Leben gesteckt und bei ihm neue Pflanzen eingegraben (zum Beispiel Ihre Deko, aber auch Ideen, Energie in jeglicher Form)? Gießen Sie sinnbildlich jeden Tag seinen Garten und passen auf, dass alles in Ordnung ist? Und achten Sie auch darauf, was für Regeln er aufstellt und halten sich daran? Teilen Sie seinen Garten mit seinen Menschen, also seiner Familie und seinen Freunden? Was ist mit Ihrem eigenen Garten passiert, seit Sie sich um Jens‘ Garten kümmern? Ist er verkümmert, ausgetrocknet, verwildert, ungemütlich geworden?
Ich vermute, dass es so ist, und dass Ihnen genau das Kümmern um einen fremden Garten und das Verkümmern des eigenen Gartens Energie raubt. Ihr Lebensmittelpunkt ist nicht mehr Ihr eigenes Leben, mit Ihren Kindern, Ihrer Familie und Ihren Freunden, Ihrer Pilates-Gruppe, sondern Ihr Lebensmittelpunkt ist Jens‘ Familie, seine Freunde, sein Haus und sein Hund.
Wie wäre es, wenn Sie wieder vermehrt darauf achten, Zeit mit sich zu verbringen und Ihr eigenes Leben mit Energie zu füllen? Also ganz konkret: Ihre Wohnung gemütlich zu machen (Blumen zu kaufen!) , Ihre Freundschaften zu pflegen, Zeit mit Ihren Kindern zu verbringen und auch mal alleine zu sein und zu sich zu kommen? Und mal sehen, wie sich das anfühlt?
Es liegt nicht in Jens‘ Verantwortung, wenn Sie Ihren eigenen Garten vernachlässigen, aber es hört sich so an, als wenn er davon sehr profitiert, dass Sie ihn unterstützen. Ich würde Ihnen vorschlagen, das anzusprechen und gemeinsam darüber nachzudenken, wie er auch mehr in Ihrem Garten/Leben wirken könnte. Sie könnten und sollten ihm auch sagen, dass ein Ungleichgewicht besteht, weil Sie sich viel mehr um seine Familie und Freunde bemühen als er sich um Ihre Familie. Auch Ihre Enttäuschung über das fehlende Interesse an Ihren Kindern könnten Sie mal offen zeigen. Fragen Sie ihn doch, wie er sich bei Ihnen mehr einbringen könnte und mehr Interesse zeigen kann.
Letztendlich ist der eigene Garten auch ein Abbild des Selbstwertgefühls. Wenn mein eigenes Leben einem lieblosen, vertrockneten Garten gleicht, dann fühle ich mich wahrscheinlich jedem unterlegen, der einen schönen Garten hat, und möchte dort mehr Zeit verbringen. So verlasse ich meine innere Balance und begebe mich in eine Abhängigkeit. Das Pflegen eines fremden Gartens lässt den eigenen Garten noch mehr vertrocknen.
Es wäre wichtig, diesen Missstand gegenüber Jens zu benennen und mit ihm nach Möglichkeiten zu suchen, sich auch in Ihrem Garten nützlich zu machen. Vielleicht könnten Sie zusammen Ihre Kinder treffen oder besuchen? Einmal die Woche zusammen bei Ihnen übernachten und Dinge unternehmen, die bei Ihnen in der Gegend möglich und interessant sind? Zum Beispiel etwas Kulturelles? Oder zusammen reisen und gemeinsam an einem neutralen Ort sein?
Wenn das alles nicht möglich ist, würde ich Ihnen empfehlen, die Situation dadurch etwas auszugleichen, dass Sie mehr Zeit in Ihrem eigenen Leben verbringen und Ihren Garten bewusst schöner machen, so dass Sie sich bei sich und Ihren Freunden wieder wohlfühlen.
Herzliche Grüße
Julia Peirano