Menschen mit Behinderungen sollen ihr Leben so selbstbestimmt wie möglich führen. Wie die Zukunft der Eingliederungshilfen genau aussieht, ist unklar. Am Donnerstag wird in Magdeburg protestiert.
In Sachsen-Anhalt wird aktuell entschieden, wie die Hilfen für Menschen mit Behinderungen in den kommenden Jahren genau aussehen sollen. Es geht um die Leistungen, das notwendige Personal und das Geld, das die Träger von Behindertenwerkstätten, Wohneinrichtungen, integrativen Kitas und Wohngruppen für ihre Arbeit erhalten. Weil sie sich um die Zukunft sorgen, haben Wohlfahrtsverbände und Organisationen für Donnerstag zu einem Protesttag auf dem Magdeburger Domplatz eingeladen. Im angrenzenden Landtag tagen parallel die Abgeordneten.
Worum geht es?
Menschen mit Behinderungen, ob körperlich oder seelisch, sollen gleichberechtigt am Leben in der Gemeinschaft teilhaben. Sie sollen so selbstbestimmt wie möglich leben, ihre Freizeit gestalten und auch Arbeit in Betrieben und Unternehmen bekommen. Das ist ein Menschenrecht. Dazu brauchen sie Unterstützung – das kann Hilfe beim eigenständigen Wohnen sein, beim Schulbesuch, der Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen, bei der Integration in den Arbeitsmarkt oder Rund-um-die-Uhr-Begleitung in einer Wohneinrichtung. Wie die Grundlagen für die Leistungen und Vergütungen genau aussehen, regelt der Landesrahmenvertrag zwischen Land und den Verbänden der Leistungserbringer.
Wo genau ist das Problem?
Das sachsen-anhaltische Sozialministerium hat im März den Rahmenvertrag zum Jahresende 2024 gekündigt. Ziel der Neuverhandlungen sei, die Ziele des Bundesteilhabegesetzes und der UN-Behindertenrechtskonvention besser umzusetzen. Das sei trotz intensiver Bemühungen bisher nicht zufriedenstellend gelungen, hatte das Ministerium argumentiert.
Nun bleiben wenige Wochen und noch immer ist nicht klar, wie es ab 2025 weitergeht. Über den neuen Rahmenvertrag wird schon seit seiner Kündigung im März verhandelt. Kürzlich legte das Sozialministerium überraschend neue Personalschlüssel vor, die aus Trägersicht eine überraschend erhebliche Reduzierung vorsehen. Zuvor hatte es versichert: „Ab dem 1. Januar 2025 bekommen alle Menschen mit Behinderungen weiter ihre Hilfen und Unterstützung.“
Ein Beispiel?
So unterstützt bislang ein Mitarbeiter im ambulanten Wohnen zwölf Menschen mit Behinderungen in ihrer individuellen Lebensführung. Die Arbeiterwohlfahrt AWO, die einen solchen Dienst von Jerichow aus in einer großen Fläche anbietet, hält das mit weniger Personal als jetzt für nicht mehr tragfähig. Die wöchentliche Begleit- und Therapiezeit samt nötigem Berichtswesen würde sich erheblich verringern. Von bislang 2,7 bis 3,8 Stunden in der Woche pro Klient blieben dann noch 1,5 Stunden. „Im Ergebnis heißt das ebenfalls, dass die durch das Sozialamt festgestellten Unterstützungsbedarfe und Ziele durch verordneten Zeitmangel ad absurdum geführt werden“, so die AWO.
Wie viele Menschen sind betroffen?
2023 erhielten in Sachsen-Anhalt 30.820 Personen Eingliederungshilfen. Die Hilfen können ganz unterschiedlich aussehen – es geht um Wohnraum, Assistenzleistungen zur sozialen Teilhabe, Leistungen für ein Kraftfahrzeug oder einen Beförderungsdienst sowie heilpädagogische Leistungen. Viele Betroffene erhalten verschiedene Leistungen parallel.
Um wie viel Geld geht es?
Es geht um viel Geld. Im vergangenen Jahr wurden für die Leistungen der Eingliederungshilfe insgesamt rund 658 Millionen Euro netto ausgegeben, teilte das Statistische Landesamt jüngst mit. 2022 lag die Summe noch bei rund 606 Millionen Euro.
Was sagen die Wohlfahrtsverbände?
„Die Träger der Einrichtungen befinden sich in einer prekären Situation, weil derzeit völlig unklar ist, auf welcher finanziellen Basis die notwendigen Leistungen und Angebote erbracht werden können“, sagte die Landesgeschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Antje Ludwig. „Wir brauchen Verlässlichkeit für die Menschen mit Behinderungen und die vielen Mitarbeitenden in den Einrichtungen.“
Die Personalrichtwerte, die das Land vorgelegt habe, bedeuteten eine Personalreduzierung – „gerade in den Bereichen der ambulanten Angebote und Wohnformen, die eigentlich verstärkt ausgebaut werden sollen.“ Und: „Wir haben berechnet, dass je nach Angebot Personal um bis zu 30 bis 60 Prozent gekürzt werden müsste – das ist absolut unakzeptabel. Die Träger werden unter diesen Bedingungen Leistungen nicht sicherstellen können.“
Die AWO, die als kleinerer Anbieter etwa 500 Menschen mit Behinderungen betreut, fehlt der Rote Faden im Handeln des Sozialministeriums. Wenn das Land stärker hin zur ambulanten Betreuung wolle, dürfe in dem Bereich nicht Personal gekürzt werden, sagt die AWO-Vorständin für Sozialpolitik, Steffi Schünemann. Vielmehr müssten die Ziele übersetzt werden und gemeinsam die Frage beantwortet, wie es zum Systemwechsel kommen könne. Derzeit sei völlig offen, wie es 2025 weitergeht. Ganz praktisch würden im November die Dienstpläne für das neue Jahr gemacht. Schünemann wünscht sich mehr Beteiligte im Boot: Vertreter der Leistungsberechtigten, Jobcenter, Arbeitgeber, Wohnungsbaugesellschaften, Kommunen, Pflegekassen und Bildungsträger.
Was sagt das Ministerium?
Das Sozialministerium antwortete auf eine Anfrage der Deutschen Presse-Agentur zunächst nicht. Auch der angefragte Behindertenbeauftragte der Landesregierung, Christian Walbrach, meldete sich nicht.