Sahra Wagenknecht will offenkundig in Thüringen eine Koalition von CDU, BSW und SPD verhindern. Profitieren könnte wieder einmal die AfD.
Der Mann, der Ministerpräsident von Thüringen werden will, heißt Mario Voigt, ist 47 Jahre alt und Mitglied der CDU. Und er hat die aktuell komplexeste Aufgabe in der deutschen Politik zu lösen. Egal, was er tut: Die bundespolitischen Auswirkungen dürften immens sein.
Voigt hat etwas vor, was es noch nie gab und viele im politischen Betrieb für schier unmöglich halten. Er will mit einem künstlich konstruierten und politisch volatilen Wahlverein, der den Namen einer früheren Linke-Politikerin trägt, eine gemeinsame Regierung bilden. Mehr noch: Es wäre eine Koalition, die selbst mit den Stimmen des dritten Partners SPD nur über 44 von 88 Stimmen verfügte, also keine verlässliche Mehrheit besäße.
Zusätzlich muss Voigt etliche, teils gegeneinander wirkende Faktoren einkalkulieren – und dies, während der Bundestagswahlkampf dräut. Da ist etwa seine CDU, in deren Bundespräsidium er sitzt, und in der größere Teile ein Bündnis mit dem BSW kategorisch ablehnen. Oder da ist die in Thüringen vom Rechtsextremisten Björn Höcke geführt AfD, die über die größte Fraktion verfügt und eine Sperrminorität im Landtag besitzt.
Parallel dazu hat Voigt Rücksicht zu nehmen auf eine verletzte SPD, die es gerade so in den Landtag geschafft hat. Sogar die Linke mit dem Noch-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, deren Enthaltungen er im Landtag benötigte, muss er irgendwie einbinden, ohne den Abgrenzungsbeschluss seiner Bundespartei zu tangieren.
Währenddessen wird von Voigt verlangt, dass er mindestens die Verhandlungen in Sachsen mitdenkt, wo CDU und SPD vor ähnlichen, wenn auch nicht ganz so komplizierten Aufgaben stehen. Auch mit Brandenburg, wo die SPD mit dem BSW regieren will, steht Voigt in Kontakt.
Wagenknecht als Endgegner der CDU
Schließlich und vor allem anderen existiert noch der Endgegner für eine Koalition: Sahra Wagenknecht. Die Gründerin, Vorsitzende und Namensgeberin des BSW befürchtet, dass pragmatische Kompromisse in den Ländern ihre fundamentaloppositionelle Strategie im Bund konterkarieren könnte. Deshalb will sie lieber keine Regierungsbeteiligung, schon gar nicht in Thüringen. Stattdessen soll es eine informelle Tolerierung einer CDU-geführten Minderheitsregierung geben.
Natürlich sagt Wagenknecht das nicht laut. Nachdem sie sich nicht mehr Kommunistin nennt, will sie auch ihr Image als bekannteste Berufsoppositionelle der deutschen Politik abstreifen.
Die BSW-Landesverbände emanzipieren sich
Doch Wagenknecht hat vorgesorgt. Schon im Wahlkampf formulierte sie im Alleingang außenpolitische Bedingungen, von denen sie wusste, dass CDU und SPD diese schwerlich annehmen können. So soll sich eine künftige Landesregierung mit BSW-Beteiligung gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und die Stationierung von US-Raketen in Deutschland aussprechen.
Diese Forderungen dienen Wagenknecht nun als potenzielle Exit-Klausel. Doch wie erwartet beginnen sich die drei Landesverbände, die jetzt über eigene Landtagsfraktionen verfügen, von der Parteizentrale und ihrer autoritär auftretenden Vorsitzenden zu emanzipieren. Die Abgeordneten besitzen Mandate für fünf Jahre und haben Aussicht auf Machtbeteiligung einschließlich Posten. Der Bundestagswahlkampf hat für sie keine Priorität.
Im Ergebnis hat sich das BSW wie der Thüringer Landtag sortiert: Es gibt eine Art machtpolitisches Patt zwischen Berlin und Erfurt.
So setzte Wagenknecht vorigen Freitag zwar durch, dass das von ihr eingeforderte Bekenntnis für Friedensverhandlungen mit Russland und gegen die Stationierung vor Koalitionsgesprächen feststehen muss. Danach musste sie aber zusehen, wie die Thüringer Landeschefin Katja Wolf das mit CDU und SPD ausgehandelte Dokument vom Landesvorstand einstimmig als „Vorratsbeschluss“ verabschieden ließ.
Das heißt: Einigen sich CDU, BSW und SPD auf einen Formelkompromiss zu Krieg und Waffen, die nicht die Westbindung der Bundesrepublik und die Solidarität mit der Ukraine infrage stellt, würden die Koalitionsgespräche sofort beginnen. Und das kann sehr schnell gehen.
Eine Basis dafür ist der friedensbewegte Text, den Voigt Anfang Oktober zusammen mit den Regierungschefs von Sachsen und Brandenburg, Michael Kretschmer (CDU) und Dietmar Woidke (SPD), in der „FAZ“ veröffentlichte. Darüber hinaus soll von der künftigen Koalition bekräftigt werden, dass in Thüringen kein Platz für US-Raketen ist – was angesichts des Zwei-plus-Vier-Vertrags, der die Stationierung in ganz Ostdeutschland ausschließt, bestenfalls eine symbolische Tatsachenfeststellung ist.
Für die CDU geht es um zwei Ministerpräsidenten-Posten
Wolf und Voigt sind sich intern einig, dass sie koalieren wollen. Und auch die Sozialdemokraten haben sich in Erfurt seit 2009 ans Regieren gewöhnt. Doch wie schon nach der Landtagswahl 2019 wird mitentscheidend sein, wie Berlin reagiert. Oder auch rein regiert.
Der gut begründbare Widerstand, den der Erfurter Kompromiss in der Union auslösen dürfte, würde wohl die Verhandlungen nicht aufhalten. CDU-Chef Friedrich Merz ist bewusst, dass an einer Einigung die zwei Ministerpräsidenten-Posten in Erfurt und Dresden hängen – und dass im Zweifel die Alternative AfD heißt.
Deutlich konfliktgeladener ist die Lage im BSW. Wagenknecht eskalierte am Wochenende neuerlich ihre Rhetorik. Dem „Spiegel“ lieferte sie einen sorgfältig angespitzten Satz: „Nach der entsetzlichen Rede von Friedrich Merz diese Woche im Bundestag, in der er faktisch einen Kriegseintritt Deutschlands gegen Russland gefordert hat, können wir mit seiner Partei nur in Koalitionen eintreten, wenn die Landesregierung sich von solchen Positionen klar abgrenzt.“
AfD wartet auf das Scheitern der sogenannten Altparteien
Die Reflexe fielen aus, wie von Wagenknecht erwünscht. Voigt verwies auf seinen Stellvertreter Christian Hirte, der Wagenknechts Forderungen als „immer abenteuerlicher“ bezeichnete. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Union im Bundestag, Thorsten Frei, nannte das Verhalten Wagenknechts bei RTL gar „schäbig“. Und der neue SPD-Generalsekretär Matthias Miersch erklärte in der „Main-Post“: „Wir werden Politik nicht betreiben, indem man sich erpressen lässt.“
Doch das Problem ist: Genau auf diese Art betreibt Wagenknecht Politik – wobei sie aufpassen muss, dass sie nicht nur die CDU spaltet, sondern ihre eigene Partei gleich mit. Währenddessen lauert die AfD, so wie vor fünf Jahren, geduldig auf den Moment des Scheiterns der sogenannten Altparteien. Dann würde sie mit großer Geste zu Gesprächen einladen oder einfach gleich die Wahl des Ministerpräsidenten beantragen.
Die Wahl wäre geheim. Und der wahrscheinliche AfD-Kandidat: Björn Höcke.