Seine Anfänge hatte Amazon als Online-Buchladen. Der E-Reader Kindle ist deshalb eines der wichtigsten Produkte. Jetzt will der Konzern ihm zu neuem Glanz verhelfen.
Eine schicke Lounge in New York City. Mit Blick auf die endlose Treppe „The Vessel“ und bei Kaltgetränken lauschen Dutzende junge Menschen, vorwiegend Frauen, den beiden Autorinnen Lucy Score und Ali Rosen, die sich in einem von Amazon organisierten Panel über ihre Lieblingsbücher unterhalten. Trotz der harten Konkurrenz durch Netflix, Tiktok und Co. ist Lesen wieder sehr im Trend.
Amazon hatte ausgerechnet bei seiner einstigen Kernkompetenz ein wenig den Anschluss verloren. Obwohl der E-Reader des Konzerns der mit Abstand meistverkaufte ist und viele Menschen den Namen Kindle einfach als allgemeinen Begriff für digitale Lesegeräte benutzen, waren die Kindles zuletzt technisch ziemlich angestaubt. Bei dem Leseevent ging es Amazon nun auch darum zu zeigen: Wir erfinden den Kindle neu – und spielen wieder ganz vorne mit.
Neuer Anstrich mit KI und Farbdisplay
Mit gleich vier neuen Kindles will Amazon das jetzt angehen und seinen E-Reader deutlich modernisiert neu erfinden. Die treibende Kraft dahinter hat sich der Konzern letztes Jahr an Bord geholt. Panos Panay hatte sich als Microsofts Hardware-Chef einen Namen gemacht, zuletzt auch Windows verantwortet. Seit einem Jahr ist er nun für Amazons Hardware verantwortlich.
Panos gilt als detailversessener Visionär. „Ich denke, es ist etwas, was sie wollten. Mir geht es darum, ein gutes Produkt fertigzustellen, es an den Kunden zu bringen“, beantwortet er die Frage, ob er deshalb zu Amazon geholt wurde. „Ich weiß nicht, ob sie das brauchten – aber sie wissen es zu schätzen.“
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Tiktok macht Lust am Lesen
Der Zeitpunkt für Amazons Kindle-Offensive könnte kaum besser sein. Nachdem die sozialen Netzwerke und Streamingdienste eine Zeit lang das Lesen verdrängt hatten, entdecken gerade jüngere Menschen es wieder für sich. Ausgerechnet Tiktok und der dortige Trend „Booktok“ wecken vor allem bei jungen Frauen eine neue Lust am Lesen.
Und obwohl der Kindle für viele der Booktok-Leserinnen das Medium der Wahl ist – es gibt Unmengen von Videos, in denen sich die meist weiblichen Fans ihre mit Popsockets und Stickern verzierten Kindles zeigen –, wirkte Amazons Reader zumindest technisch eigentlich ziemlich angestaubt.
Frischekur für den Amazon Kindle
Während der Kindle etwa seit 17 Jahren schwarz-weiß blieb, bieten Hersteller wie Remarkable, Onyx oder Kobo schon seit einigen Jahren Farbdisplays an – bei gleicher Laufzeit. Auch den Trend, Papier zum Schreiben von Notizen zu emulieren, hatte Amazon lange verschlafen, bevor vor zwei Jahren mit dem Scribe der erste Kindle mit Stift erschien.
Wie viele Kindles genau verkauft werden, verrät Amazon nicht. Studien zeigen aber immer wieder, dass das US-Unternehmen etwa 50 Prozent des E-Reader-Marktes für sich beanspruchen kann.
Angestaubt
Dabei könnte es noch mehr sein: Weil auch ältere Kindles weitgehend genauso funktionieren wie am Anfang, gibt es weniger Druck, ein neues Gerät zu kaufen, als es bei anderen Kategorien wie einem Smartphone der Fall ist. „Die Leute sind oft zufrieden mit dem, was sie haben, denken gar nicht darüber nach. Sie denken sich: ‚Es war gut genug für mich'“, räumt Panay ein. „Erst wenn sie eines der neuen Geräte nutzen, merken sie dann, was sie verpasst haben.“ Mit den neuen Kindles will man nun eine Erneuerungskur schaffen. Dabei stechen vor allem zwei Geräte hervor.
Der Kindle Colorsoft setzt als erstes Modell auf ein Farbdisplay. Das lässt etwa Comic-E-Books wirken, als hätte man wieder ein lustiges Taschenbuch in der Hand. Ein weiterer schöner Effekt: Die im Ruhezustand eingeblendeten Cover werden jetzt ebenfalls in Farbe gezeigt. Das lässt den Reader nicht nur mehr wie ein echtes Buch wirken, sondern macht tatsächlich mehr Lust, ihn wieder zur Hand zu nehmen.
Wie vielen Kunden das den Aufpreis von 90 Euro zum ohnehin mit 200 Euro nicht ganz günstigen Kindle Paperwhite wert ist, steht auf einem anderen Blatt.
Der neue Kindle hilft beim Schreiben
Im Alltag deutlich praktischer dürfte die KI sein, die Amazon erstmals beim Kindle Scribe einführt. Der Gedanke wirkt zunächst merkwürdig: Ausgerechnet ein Lesegerät lernt, mit generativer KI Inhalte zu erstellen. Tatsächlich wirkt der Ansatz aber sehr durchdacht.
„Man sollte Kunden nicht mit Funktionen überwältigen. Zu viel Schnickschnack, fast schon Magie. Das ist nicht nützlich“, erklärt Panay. Während viele Hersteller irgendwelche KI-Funktionen verbauen, um das Gerät smart nennen zu können, plädiert er für einen konzentrierten Ansatz. „Wir haben ein Produkt zum Lesen und Schreiben entwickelt. Punkt. Die KI soll es nur besser machen. Wir müssen nicht immer alles neu erfinden“, erläutert er. „Lieber einige sehr gezielte Verbesserungen, die wirklich Nutzen bringen, als alles reinzupacken, nur weil es geht.“
Handschrift, aber schön
Beim Kindle gibt es künstliche Intelligenz deshalb nur für zwei sehr konkrete Anwendungen. „Der Kindle Scribe nutzt KI auf zwei Arten: Um handschriftliche Notizen klarer zu erfassen und aufzuräumen. Und um Inhalte zusammenzufassen“, erläutert Panay.
Das sei auch aus einem persönlichen Bedürfnis entstanden. „Ich mache jeden Tag handschriftliche Notizen, früher auf dem Surface, heute auf dem Kindle Scribe. Wir sprechen hier wirklich von Hunderten Seiten“, berichtet Panay. „Aber sie jemandem zu zeigen, kann dann oft peinlich sein. Mein Team fragt oft danach, aber das wird nie passieren“, lacht er. „Schreiben ist so etwas Persönliches. Jemandem etwas Handgeschriebenes zu geben, ist viel persönlicher, als es jede E-Mail je sein wird.“ Die KI helfe ihm dabei, die oft hastig formulierten und geschriebenen Notizen in brauchbarer Form weiterzugeben.
Komplett neu ist das nicht: Apple hat etwa im Sommer im Rahmen seiner KI-Offensive Apple Intelligence ein ähnliches Feature für seine iPads mit den Apple Pencil vorgestellt. Welcher der Hersteller bei der Umsetzung mehr überzeugt, wird sich erst beim Kunden zeigen.
Schade ist: Die europäischen Nutzer sind in beiden Fällen bislang außen vor. Amazon und Apple bieten die KI-Funktionen derzeit nur in den USA an. Dafür bekommen dort auch Besitzer des älteren Scribe die KI per Update.
Beim Thema künstliche Intelligenz seien wir bislang aber ohnehin erst am Anfang, meint Panay. „Ich glaube nicht, dass irgendeines der Produkte, die wir heute sehen, in fünf Jahren noch genauso sein wird“, betont er. „Wir stehen bei dieser Technologie ganz am Beginn, quasi in den ersten zehn Lebensjahren eines Kindes. Die nächsten Jahre werden sehr transformativ und wie bei einem Kind kann niemand sagen, wie es in zehn Jahren aussieht.“