Abtreibung: Aktivisten fürchten beim Paragraf 218: „Wir haben keine Zeit mehr“

Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung macht mit einer Petition Druck auf die Ampel, endlich das Abtreibungsrecht zu reformieren. Sprecherin Annika Kreitlow erklärt, warum das so wichtig ist.

Die selbsternannte Fortschrittskoalition aus SPD, Grünen und FDP war zu Beginn ihrer Amtszeit ein Hoffnungsträger für Gegnerinnen und Gegner des Paragrafen 218, dem Gesetz, das Abtreibungen in Deutschland verbietet. Doch ein Jahr vor der Bundestagswahl haben die Ampelparteien immer noch keinen Gesetzesentwurf vorgelegt, der Schwangerschaftsabbrüche legalisieren würde. Dabei hatte die Regierung selbst eine Kommission eingesetzt, die prüfen sollte, ob diese Eingriffe außerhalb des Strafgesetzbuches geregelt werden könnten. Die Kommission hatte als Ergebnis ihrer Arbeit im April dieses Jahres empfohlen, Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche nicht mehr unter Strafe zu stellen. 

Die CDU/CSU drohte daraufhin mit einer Klage, falls die Ampelregierung frühe Abtreibungen legalisieren sollte. Im Falle eines möglichen konservativen Regierungswechsels befürchten Aktivistinnen und Aktivisten eine Verschlimmerung der Lage von ungewollt schwangeren Frauen, wenn Abtreibungen nicht vorher legalisiert werden.

Ein Zusammenschluss von „Pro Choice“ Aktivistinnen und Aktivisten hat deshalb jetzt einen eigenen zivilgesellschaftlichen Gesetzesentwurf vorgestellt, der Abtreibungen legalisieren würde. Zudem will das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung der Ampelregierung im Laufe des Tages eine Petition überreichen, die die Abschaffung des Paragrafen 218 fordert. Die Gynäkologin Annika Kreitlow ist Sprecherin des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung.

Frau Kreitlow, Proteste gegen den Paragrafen 218 gibt es seit Jahrzehnten. Warum braucht es gerade jetzt eine weitere Petition? 
Wir haben einfach keine Zeit mehr. Im April dieses Jahres wurde der Abschlussbericht der von der Ampelregierung beauftragten Expertenkommission veröffentlicht. Darin steht, dass Schwangerschaftsabbrüche, zumindest in der Frühphase, entkriminalisiert werden müssen, um europäischen und Menschenrechtsstandards zu genügen. Seitdem ist aber auf Regierungsseite nichts passiert. Es gibt keinen Gesetzesentwurf, keine Initiative. Bereits nächstes Jahr steht die Bundestagswahl an. Die Möglichkeit, ein Gesetz noch davor zu verabschieden, ist jetzt. Wir können nicht länger warten.

Abtreibung Petition zur Person

Deshalb hat eine große Gruppe aus zivilgesellschaftlichen Organisationen, zu denen auch Ihr Bündnis gehört, einen eigenen Gesetzesentwurf in Auftrag gegeben, der nun vorgestellt wurde. 
Weil die Regierung bisher nicht gehandelt hat, haben wir gehandelt und Expertinnen und Experten beauftragt, ein Gesetz zu entwerfen, das Schwangerschaftsabbrüche legalisieren würde. Mit diesem Entwurf haben wir gezeigt: Es ist nicht schwer, ein neues Abtreibungsgesetz zu schreiben. Jetzt liegt es an der Regierung, etwas daraus zu machen – und zwar noch in dieser Legislaturperiode. 

Aktuelle Prognosen sagen einen Wahlsieg der CDU und eine Regierungsbeteiligung der AFD voraus. Haben Sie als „Pro Choice“ Aktivistin Angst vor einem Regierungswechsel?
Auf jeden Fall!

Warum?
Ich befürchte, dass die Situation für ungewollt Schwangere unter einer rechtskonservativen Regierung noch schlimmer wird. Zumindest wenn der Paragraf 218 in dieser Legislaturperiode nicht mehr abgeschafft wird. Beratungsstellen, die die aktuell noch verpflichtenden Gespräche vor einer Abtreibung durchführen, könnten unter einer konservativen Regierung gekürzt oder abgeschafft werden. Wenn man aber keine Beratungsstelle fände, könnte man auch keine Schwangerschaft abbrechen, weil das Gespräch ja verpflichtend ist. Wenn die aktuelle Gesetzeslage so bleibt, wie sie ist, gibt es viel Spielraum ins Negative.

Abtreibung Kasten Paragraf 218

Die Union beschreibt das aktuelle Gesetz als einen „Kompromiss“. Das klingt nicht so schlecht. 
Das System in Deutschland ist ein schlechter Kompromiss. Es ist voller Hürden. Durch die Frist von zwölf Wochen, innerhalb der abgetrieben werden darf, ist die Zeit sehr knapp. Viele Frauen bemerken erst ab der vierten bis achten Schwangerschaftswoche oder noch später, dass sie schwanger sind. Dann müssen sie erst einmal für sich die Entscheidung treffen, dass sie abtreiben wollen. Danach müssen sie eine Beratungsstelle finden. Zudem müssen sie überhaupt eine Ärztin oder einen Arzt finden, der Abtreibungen vornimmt. Die Versorgungslage in Deutschland ist katastrophal und Frauen müssen teilweise Hunderte Kilometer zu schon pensionierten Ärztinnen und Ärzten reisen, um abtreiben zu können. 

Wie hängt das mit dem Gesetz zusammen?
Schwangerschaftsabbrüche werden im Medizinstudium meist nicht behandelt und die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, ist daher rückläufig. Viele schrecken außerdem davor zurück, weil Schwangerschaftsabbrüche offiziell illegal sind. Betroffene und Ärztinnen und Ärzte werden durch den Paragraf 218 stigmatisiert. Das Gesetz vermittelt ihnen, dass sie etwas tun, was offiziell verboten ist und sie sich deswegen schlecht fühlen sollten. 

Abtreibung 18:15

Die Union und andere konservative Vertreter positionieren sich immer wieder gegen Schwangerschaftsabbrüche und für den Schutz ungeborenen Lebens. Verhindert das aktuelle Gesetz ihrer Meinung nach denn Abtreibungen?
Nein, die Maßnahmen, die wir gerade haben, führen nicht dazu, dass „ungeborenes Leben“ – wie auch immer das definiert wird – geschützt wird. Es führt nur dazu, dass Leute, die sowieso abtreiben werden, mehr Hürden haben und ihnen ein schlechtes Gewissen gemacht wird. Wenn man Schwangerschaftsabbrüche verhindern möchte, müsste man Verhütungsmittel kostenlos zur Verfügung stellen und die Sexualaufklärung in Schulen ausbauen, sowie die Gesundheitsversorgung für Flinta* [Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, transgeschlechtliche und agender Personen, Anm. d. Red.] im Allgemeinen verbessern. 

Es scheint, als wäre die Abtreibungsdebatte vor allem ein politisch motiviertes, ideologisches Thema. Ist ein Diskurs überhaupt noch möglich?
Ein richtiger Diskurs ist schwer. Denn natürlich darf man persönlich gegen Schwangerschaftsabbrüche sein. Nur leider weiten viele Abtreibungsgegnerinnen und -gegner ihre Meinung populistisch auf andere Personen aus. An dieser Stelle geht der zivilisiertere Diskurs verloren. Gerade auf konservativer Seite ist die Diskussion von Ideologie getrieben. Da geht es gar nicht mehr um die Menschen und die individuelle Situation von ungewollt Schwangeren. Ich verstehe nicht, warum man jedem nicht einfach die Entscheidung überlässt. 

Wo ist Deutschland mit seinem Abtreibungsgesetz auf europäischer Ebene einzuordnen? 
Ganz hinten. Natürlich gibt es Länder wie Polen, in denen die Situation schlechter ist. Aber Frankreich und die Niederlande haben zum Beispiel viel bessere Gesetze. Unsere Regelung zum Schwangerschaftsabbruch ist auch im europäischen Vergleich kein guter Status Quo. Den aktuellen Stand zu behalten, wäre schlimm. Ihn noch weiter zu verschlechtern, wäre katastrophal. Aber das ist gerade eine reale Bedrohung.

Dabei haben SPD und Grüne im vergangenen Monat verkündet, dass sie Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche legalisieren wollen. 
Vom Verkünden wird die Situation nicht besser. Natürlich freuen wir uns, wenn zwei von drei Koalitionspartnern dafür sind. Aber was wir brauchen, ist ein Gesetzesentwurf. Bisher haben wir von der Regierung auf Nachfrage immer Absagen für konkrete Umsetzungen bekommen. 

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Mit welcher Begründung?
Es heißt häufig, dass das Thema zu aufgeladen sei und die Gesellschaft spalten würde. Die SPD und die Grünen sagen zwar offiziell, dass sie für eine Legalisierung sind. Wenn es dann aber konkret werden soll, heißt es, dass die FDP nicht mitzieht. Um ehrlich zu sein habe ich auch noch nie Olaf Scholz sagen hören, dass er deutlich für eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist. Genauso wenig wie Karl Lauterbach oder Justizminister Marco Buschmann.

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Sind die Positionierungen von SPD und Grünen also leere Versprechen?
Gerade sieht es so aus. Da muss noch etwas kommen – bevor alle in den Wahlkampfmodus schalten und keine Zeit mehr für die Verabschiedung von Gesetzen da ist. 

Was würde sich ändern, wenn Ihre Forderungen Erfolg hätten und der Paragraf 218 abgeschafft würde?
Dann gäbe es weniger Hürden zum Schwangerschaftsabbruch! Ungewollt Schwangere würden mehr Informationen bekommen, es würde mehr Ärztinnen und Ärzte geben, die den Abbruch durchführen. Der Abbruch würde von der Krankenkasse übernommen werden, und es würde weiterhin ein Recht auf Beratung geben, aber keine Pflicht dazu. Vor allem würde es den Frauen viel Druck nehmen, sowohl zeitlichen, finanziellen als auch moralischen.