Was ist eigentlich eine gesunde Psyche? Historisch wurde die Definition von „normal“ in der Diagnostik oft missbraucht. Welch skrupellosen Folgen diese Kategorisierung haben kann.
Was als „normal“ gilt oder als „Abweichung“ oder „Störung“, wurde im Laufe der Zeit immer wieder neu definiert. Um im Gewirr der psychologischen und psychiatrischen Strömungen und Schulen von Psychoanalyse bis Verhaltenstherapie mehr Orientierung zu stiften, schuf man aber erst Mitte des 20. Jahrhunderts Standardkataloge für psychische Auffälligkeiten. Eines der wichtigsten ist das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft, das international eine große Rolle in der Forschung spielt. Der DSM-Diagnosekatalog beschreibt psychische Störungen anhand ihrer Symptome – unabhängig von der Frage, wie sie entstanden sind und ob jemand eine Therapie benötigt. Dieses Handbuch war nie statisch: Seine Diagnosen wurden immer wieder neu verhandelt und definiert.
Das erste DSM erschien im Jahr 1952 und enthielt 106 Diagnosen, die aktuelle fünfte Auflage listet mehr als 370 auf. Im Zuge vieler Überarbeitungen bekamen Begriffe wie „Hypochondrie“ einen Platz darin und verschwanden wieder; neue Diagnosen kamen hinzu, zuletzt im Jahr 2022 die „anhaltende Trauerstörung“, die einen Zustand beschreibt, in dem man den Tod eines nahen Menschen auch nach längerer Zeit nicht verkraftet hat. Geradezu kurios ist die Evolution der Autismus-Diagnosen: Im ersten DSM galt Autismus als Begleitdiagnose von Kindern mit Schizophrenie, in den 1990er-Jahren existierten zeitweilig mehrere Unterkategorien autistischer Störungen, heute ist nur noch eine gelistet, die „Autismus-Spektrum-Störung“.STERN PAID bin ich noch normal Winterblues Alexandra Maygnan langes Protokoll
Als Standardwerk steht das amerikanische DSM-Manual aber nicht allein: Maßgeblich für die Kassenabrechnung bei sämtlichen Krankheitsbildern, inklusive der psychischen, ist die „International Classification of Diseases“ (ICD) der Weltgesundheitsorganisation. Die ICD versucht auch kulturelle Unterschiede abzubilden. Sie gilt international als der kleinste gemeinsame Nenner der Diagnostik.
Psyche: Wann ist es normal und wann eine Abweichung?
Immer wieder wurde hart darum gerungen, ob psychische Eigenheiten als Abweichung zu gelten haben oder als „normal“ im Rahmen des Spektrums menschlicher Verhaltensweisen. Oft waren und sind Diagnosen geprägt von kulturellen Normen oder Moralvorstellungen: So hielt man Homosexualität lange für eine Unterform einer Persönlichkeitsstörung – und für „heilbar“. Es ist dem Einsatz des Psychiaters Robert Spitzer und der Psychologin Evelyn Hooker zu verdanken, dass ab den 1970er-Jahren ein Umdenken einsetzte und Homosexualität heute nicht mehr als Störung gelistet ist.
Tatsächlich wird das Definieren von „normal“ und „abweichend“ bereits seit Jahrhunderten als Machtmittel eingesetzt und missbraucht: Selbstbewusste oder anderweitig auffällige Frauen wurden im Mittelalter oft erbittert von Kirchenmännern verfolgt, gefoltert und ermordet. Schon lange vor der Zeit des Psychoanalytikers Sigmund Freud galt weibliche „Hysterie“ als Krankheit, die unter anderem durch regelmäßigen Verkehr mit dem Ehemann therapiert werden sollte.STERN PAID Bin ich noch normal Schizoaffektive Störung langes Protokoll
Selbst die Sklaverei wurde mit Verweis auf angebliche Diagnosen gerechtfertigt: Für die Volkszählung der USA im Jahr 1840 zogen Zähler von Tür zu Tür und notierten nicht nur die Zahl der Personen im Haus, Alter und Hautfarbe – sondern auch, ob sie an „insanity“ oder „idiocy“ litten, an „Wahnsinn“ oder „Schwachsinn“ im damaligen Wortlaut. Aufgrund katastrophal schlechter Statistik ergab der Zensus, dass selbstbestimmt lebende Schwarze angeblich zehnmal so oft daran litten wie schwarze Sklaven. Weiße Mediziner, die die Sklaverei propagierten, zogen daraus den so eigennützigen wie rassistischen Schluss, dass für Schwarze die Freiheit schädlicher sei als die Sklaverei.
In Deutschland und Europa begann Ende des 19. Jahrhunderts die verheerendste Zeit für Menschen, die angeblich nicht den Normen entsprachen. Ärzte, Politiker und Eugeniker diskutierten skrupellos darüber, psychisch Kranke oder Menschen mit Behinderung unfruchtbar zu machen oder zu töten. Ein Gesetzentwurf zur Zwangssterilisation aus der Weimarer Zeit wurde von den Nationalsozialisten ab 1933 verschärft. Unter Berufung auf solche Gesetze wurden bis zu 400.000 Menschen zwangssterilisiert, darunter Männer und Frauen mit Schizophrenie, Manisch-Depressive oder Alkoholiker. Die Verfolgung Kranker gipfelte ab 1939 in der Ermordungsaktion „T4“, geplant von einer Dienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4. Mehr als 70.000 Menschen wurden in Tötungsanstalten wie Brandenburg oder Pirna-Sonnenstein ermordet. Geschätzt eine Viertelmillion Menschen wurde in der NS-Zeit unter Berufung auf gesundheitliche oder psychische Normvorstellungen getötet.
Es kann entlasten, sich zuerst einer Vertrauensperson oder dem Hausarzt anzuvertrauen. Therapeuten-Adressen listet die Bundespsychotherapeutenkammer (www.bptk.de). Im Notfall erreichbar ist die Telefonseelsorge (0800/111 01 11 und 0800/111 02 22).