Wirtschaft auf der Kippe: „Die SPD braucht jetzt dringend mehr Mut“

Die Wirtschaft steckt in der Krise, die Beiträge steigen. Was tun? Die Politikwissenschaftlerin Anke Hassel denkt, dass es bald zu einer einschneidenden Reform kommen muss.

Die Wirtschaft lahmt, die Sozialbeiträge könnten nächstes Jahr so stark steigen wie seit 20 Jahren nicht mehr. Damals, Anfang der Nullerjahre, sah sich der SPD-Kanzler zu einem radikalen Kurswechsel gezwungen. Braucht es heute eine neue Agenda 2010? 
Auf absehbare Zeit wird es einen Befreiungsschlag geben müssen. Wir kommen aus einer guten Phase, in der sich Wirtschaft und Arbeitsmarkt positiv entwickelt haben. Dann kamen zwei massive Schocks für die Wirtschaft: der Covid-Schock und der Energie-Schock. Jetzt ist die Wirtschaftsleistung zweimal hintereinander gesunken.  

Und dadurch ist die Lage so dramatisch, dass es ähnlich einschneidende Reformen braucht wie damals? 
Die Lage ist schlecht. Es braucht keine Agenda 2010, das Jahr 2010 wäre heute in die Vergangenheit gerichtet. Ich glaube aber, dass es eine Art Agenda 2030 geben wird. Offen ist nur, wann genau sie kommen wird – ob nächstes Jahr, oder in den nächsten drei bis vier Jahren. 

Anke Hassel
 

Wovon hängt das ab?  
Wir wissen nicht, wie schnell es jetzt schlimmer wird. Vor der Agenda 2010 haben sich die Probleme über einen längeren Zeitraum angehäuft: Der Schock für die deutsche Wirtschaft lag damals in den Jahren nach der Wiedervereinigung. Durch die Neuorganisation der Arbeitsmärkte in Ostdeutschland haben sich Schulden angehäuft, die Arbeitslosigkeit ist stark gestiegen, die Wirtschaft ist nicht gewachsen wie erhofft. Es hat damals rund zehn Jahre gedauert, bis die Politik zu dem Schluss kam, dass sich etwas radikal verändern muss.  

Vorab Habeck nennt Wirtschaftsdaten

Was ist heute anders?  
Zwar haben wir ähnlich wie damals auch heute eine lahmende Wirtschaft, steigende Arbeitslosenzahlen und zunehmende Haushaltsschwierigkeiten. Doch die Probleme, die darunterliegen, unterscheiden sich. Heute leidet die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands unter den hohen Energiepreisen und der veränderten Rolle Chinas. Dazu kommt der Druck zur Dekarbonisierung aufgrund des Klimawandels. Das Entscheidende gegen die jetzige Krise sind Investitionen in die Infrastruktur, in die Innovation der Unternehmen und in die Forschung.  

Das dürfte mit der Schuldenbremse nicht zu machen sein. 
Da muss es eine Anpassung geben. Ich gehe davon aus, dass es in einer neuen Regierung nächstes Jahr auch schnell darum gehen wird. Es braucht mehr finanzielle Handlungsspielräume, und das geht nur, indem man etwas an der Schuldenbremse ändert.  

CDU-Chef Merz hat bereits, wenn auch vage, eine „Agenda 2030“ angekündigt – meint er damit auch eine Änderung der Schuldenbremse? Bislang spricht er sich gegen sie aus. 
Am Ende würde es wohl darauf hinauslaufen. Die Diskussion findet auch in der CDU längst statt: Die CDU-Ministerpräsidenten in den Ländern, die unter der Schuldenbremse leiden, fordern praktisch alle Änderungen an dem Instrument. 

„Steigende Beiträge sind Gefahr“

Es sieht fast so aus, als würde Kanzler Scholz heute sogar noch in die entgegengesetzte Richtung laufen: Er und seine SPD wollen unbedingt das Rentenpaket durchdrücken, das auch die Rentenbeiträge steigen lassen würde.  
In der Tat, die steigenden Sozialversicherungsbeiträge sind eine Gefahr für die wirtschaftliche Dynamik. Deutschland hat schon lange ein Problem mit der Höhe der Sozialversicherungsbeiträge. Besonders das untere Ende am Arbeitsmarkt leidet darunter, dass Arbeit so hoch besteuert wird. Steigen sowohl die Beiträge zur Kranken-, zur Pflege- und zur Rentenversicherung, kommt alles zusammen. Das wird das Problem verschärfen.  

Was würde helfen? 
Es braucht Strukturreformen im Bereich der Sozialversicherungen. Die sind weder in der langen Zeit der Merkel-Ära angegangen worden, noch hat sich die Ampel in den letzten drei Jahren da rangetraut. In der Rentenpolitik etwa müssen andere Wege beschritten werden.  

Steuerverschwendung 19.20

Welche? Die FDP setzt sich für mehr Kapitaldeckung in der Rente ein.  
Die Überlegungen, einen bestimmten Teil der Rente an den Kapitalmärkten erwirtschaften zu lassen, sind richtig. Wenn man sich im europäischen Umfeld umschaut, funktionieren die Rentensysteme gut, die einen Anteil von Kapitaldeckung haben, etwa in den Niederlanden oder in Schweden. Was nun dazu im Rentenpaket vorgesehen ist, ist allerdings nur ein sehr zaghafter Versuch.  

Woran liegt das? 
Die SPD wurde unter Schröder gleich doppelt traumatisiert: Von den Hartz-Reformen, die riesige Proteste hervorriefen, zu einer Abspaltung eines Teils der Partei führten und den Kanzler am Ende sogar sein Amt kosteten. Aber die SPD trug auch durch die Riesterrente ein Trauma davon. Die sollte eigentlich den Einstieg in eine kapitalgedeckte Rentenversicherung einleiten, war aber handwerklich schlecht gemacht. Jetzt gibt es jede Menge Rentenprodukte auf dem Markt, die keine Renditen erwirtschaften und auch nicht dazu führten, dass man einen Kapitalstock in der Rente aufbauen konnte. Mit diesem Trauma war das Thema in der SPD tot. Nur löst das das Problem natürlich nicht. Die SPD braucht jetzt dringend mehr Mut in der Frage.