Schwache Wirtschaft, Probleme in der Pflegeversicherung: diese Woche steckte voller Nachrichten, die an 2002 und 2003 erinnern. Das spielt einem Mann aus der Vergangenheit in die Hände.
Lange Zeit hieß es über Friedrich Merz, er sei ein Mann der Vergangenheit – im Auftritt, in der Ansprache und in seinen Positionen ein Flashback in die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts: Bierdeckel-Steuerreform, traditionelle Werte, Leitkultur, harte Kante, kurz: ein Mann von gestern. Unvermittelbar für viele Wählerinnen und Wähler im Jahr 2024 oder 2025.
Nun, das Etikett des Ewiggestrigen war immer etwas überheblich und wurde Merz nie gerecht. Schließlich bleibt niemand in 20 oder 25 Jahren einfach stehen und lernt nichts dazu. Aber in Zeiten, in denen sich das Land am liebsten mit der Sinnhaftigkeit der Vier-Tage-Woche befasste, mit dem Gender-Sternchen und dem Veggie-Day, da funktionierte das Etikett recht gut.
Je länger jedoch die Ampel-Koalition mehr oder weniger ideen-, willen- und tatenlos dabei zusieht, wie die Wirtschaftskraft des Landes langsam, aber sicher schrumpft und schwindet, desto eher sind wir tatsächlich wieder da, wo wir Ende der 90er und Anfang der 2000er Jahre waren: sinkende Steuereinnahmen, steigende Arbeitslosenzahlen, und immer größere Löcher in den gesetzlichen Sozialversicherungen.
Fünf verlorene Jahre
Die Nachrichten in dieser Woche waren doch ein einziger Flashback in die Anfänge des vorletzten Jahrzehnts: Die Pflegeversicherung stehe kurz vor der Insolvenz, war so eine Meldung (was faktisch Unfug ist, aber egal), die geplante Beitragserhöhung reiche bei Weitem nicht aus, um die Ausgaben zu decken. Eine Nachricht wie aus dem Jahr 2002 oder 2003. Die Wirtschaftsleistung wird dieses Jahr erneut ein bisschen sinken, das zweite Jahr infolge. Hätte genauso gut auch 2002 oder 2003 gesendet werden können. Die Zahl der Arbeitslosen steigt und wird es weiter tun, sagt Andrea Nahles voraus, die Chefin der Bundesagentur für Arbeit. Und als nächstes folgt die Steuerschätzung für das kommende Jahr, die mit dem fehlenden Wachstum ebenfalls eher schrumpfen als zulegen dürfte.
Natürlich sind wir noch weit entfernt von der Misere der 00er Jahre, als es fünf Millionen Arbeitslose gab. Doch mit dem tiefen Wirtschaftseinbruch 2020, dem Energiepreisschock 2022 sowie zwei leichten Rezessionsjahren hintereinander, befindet sich das Land heute wirtschaftlich in realen Preisen auf dem Niveau des Jahres 2019. Fünf verlorene Jahre, das ist bitter.
Riesige Ausgaben und viele neue Schulden
Nicht alles davon geht auf das Konto der Ampelkoalition, weder die Folgen der Pandemie noch alle Folgen der Energiekrise und des Schocks aus dem Ukraine-Krieg. Aber schwer wiegt, dass sich das Regierungsbündnis aus SPD, FDP und Grünen wirtschafts- und finanzpolitisch auf nicht mehr viel einigen kann, seit das Bundesverfassungsgericht vor bald einem Jahr den Weg über neue Schulden versperrt hat. Mit allerhand Tricks und Kniffen laviert sich die Regierung seither durch, bestenfalls reichen Ehrgeiz und Mut noch für ein Flickwerk aus 49 kleinen Kleinigkeiten, von denen aber völlig unklar ist, was davon jemals den Weg ins Gesetzbuch schafft.
Man gewinnt den Eindruck, die Politik hat sich festgefressen in den zahlreichen Herausforderungen und Krisen, und sie findet keine Kraft mehr, neue Strategien und Antworten zu entwerfen. Es scheint, als gäbe es nur noch Schwarz oder Weiß: harte Einschnitte und Strukturreformen auf der einen Seite oder aber riesige neue Ausgabenprogramme und viele neue Schulden auf der anderen.
Brauchen beides: Angebot- und Industriepolitik
Stellvertretend für die großen politischen Blöcke, die sich gerade unversöhnlich gegenüberstehen, hatte Capital am Donnerstag zwei prominente Vertreter zu Gast: Auf der Bühne des „Vermögensaufbau-Gipfels“ in Frankfurt saßen die Ökonomen Sebastian Dullien und Lars Feld. Dullien ist ein gewerkschaftsnaher und einflussreicher Ökonom bei SPD und Grünen, Feld ist persönlicher Berater von Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner, legte in Frankfurt aber großen Wert auf die Feststellung, er lasse sich gerne auch bei der Union verorten.
Fast eine Stunde diskutierten Dullien und Feld über Strategien und Wege aus der aktuellen Flaute, die natürlich beides hat: eine langfristige strukturelle Dimension, und eine ganz akute. Die strukturellen Probleme werden sich nicht über Nacht beheben lassen, und sie anzugehen wird viel Kraft kosten. Die Stichworte hier lauten Bürokratieabbau, Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, aber auch Kostensenkungen für Unternehmen, sei es bei der Energieversorgung oder bei Steuern und Abgaben. Das waren die Ansätze von Lars Feld.
Aber da ist auch eine kurzfristige Dringlichkeit, die besonders Dullien adressierte: Die Welt um uns herum hat sich verändert, die Regeln sind heute andere als noch vor fünf oder zehn Jahren. Und entsprechend müssen auch wir heute anders auftreten. Dulliens Empfehlungen lauteten: Die Ursachen der akuten Wachstumsschwäche werden sich nur durch eine beherzte Industriepolitik beheben lassen, mit der der Staat private und öffentliche Investitionen anschiebt und zugleich Unternehmen mit Förderprogrammen Planungssicherheit gibt und sie so bei der Transformation ihrer Geschäftsmodelle unterstützt. Dafür wird mehr Geld nötig sein als der Bund heute ausgeben kann.
Die Schnittmenge zwischen Feld und Dullien: null. Dabei ist die Antwort doch offensichtlich: Wir werden beides brauchen, um aus der Krise herauszukommen – Strukturreformen à la Feld und mehr öffentliche und private Investitionen à la Dullien. Kurzfristig, das ist das Traurige, wird sich an dem Patt aber kaum noch etwas ändern. Frühestens nach der nächsten Bundestagswahl, spätestens also im Herbst 2025, gibt es die Chance für einen neuen Anlauf. Und der wahrscheinliche Kanzler aus heutiger Sicht heißt dann Friedrich Merz – in einer großen Koalition mit der SPD.
Bekommt Merz seinen Agenda-Moment?
Gut möglich, dass er, ähnlich wie vor 20 Jahren Gerhard Schröder nach seiner Wiederwahl 2002, relativ bald nach Regierungsantritt seinen Agenda-Moment haben wird – dann für eine Agenda 2030 oder 2035. Gemessen an seinem Anspruch an sich selbst müsste ihm das durchaus entgegenkommen. Nach Jahren des Stillstands müsste er ein großes Reform- und Wirtschaftsprogramm für die Modernisierung des Landes entwerfen. Die Kollegen des „Handelsblatt“ berichteten diese Woche über erste Pläne von Merz für eine große Steuerreform – auch dies ein Flashback in die 00er Jahre, aber ebenso ein probates Mittel gegen die Lethargie. Allerdings, damit sich die SPD darauf einlässt, müsste er wohl auch deutlich höhere Investitionen und eine aktivere Industriepolitik akzeptieren. Und, aber das fordern ja auch etliche CDU-Ministerpräsidenten inzwischen, eine Reform der Schuldenbremse im Grundgesetz.
Vor bald drei Jahren, als Merz im dritten Anlauf die Parteispitze eroberte, sah es so aus, als komme er mindestens 15 Jahre zu spät. Was man damals noch nicht ahnen konnte: dass das ganze Land, statt darüber zu lamentieren, ob Merz wirklich der richtige Kandidat für das Jahr 2025 sein könnte, ihm einfach etwas entgegenkommen würde. Nun ist es so weit, jedenfalls sieht es so aus, als könnte ein Kanzler Merz ganz gut in die Zeit passen.