In Deutschland läuft viel schief – und wir tun, was wir gut können: andere dafür verantwortlich machen. Doch nur eine radikal ehrliche Analyse bringt uns aus der tiefen Krise.
Eine Brücke stürzt ein. Volkswagen könnte Mitarbeiter entlassen. Rechtsextreme gewinnen Wahlen. Die Industrie wandert ab. Ja, dieses Land hat ein Problem. Oder, genauer gesagt: viele Probleme. Warum treten sie gefühlt so gebündelt auf? Warum läuft plötzlich so schief? Warum stecken wir in einer Rezession, während andere Industrie- und Schwellenländer munter wachsen, oder sich zumindest über der Nulllinie halten?
Es gibt viele schnelle, einfache Antworten: Die Politik der Ampel ist schuld. Dazu auch die von Angela Merkel, schließlich hat sie den Atomausstieg eingeleitet und die Asylkrise zu verantworten. Dann sind da noch die Chinesen, die unsere Autos nicht mehr kaufen. Und Wladimir Putin, der den Krieg nach Europa zurückgebracht hat und uns kein billiges Gas mehr liefert. Ach so ja – und Donald Trump hat gute Chancen, wieder US-Präsident zu werden, dann kommen Strafzölle und andere Ärgernisse.
Die Versuche, die Lage schönzureden, wirken verzweifelt. Aber auch diejenigen, die ehrlich versuchen, die Lage zu erfassen und konkrete Vorschläge machen, adressieren das wirkliche deutsche Problem nicht, oder nur am Rande: Wir sind in unserem Denken, unserer Mentalität und unseren Reflexen für diese Gegenwart nicht gemacht. Die Krise haben nicht die Grünen, oder die Migranten, oder die Langzeitarbeitslosen verursacht, sondern wir selbst. Jeder einzelne von uns.
Wir liegen starr wie Fossilien auf dem Grund eines Ökosystem, das vor lebendigen Wesen nur so wimmelt. Wir drehen uns wie ein batterieschwacher Autoscooter langsam und kraftlos um uns selbst, während die anderen umherwirbeln, sich anrempeln und Freude dabei haben. Wir sind die Lateinlehrer mit Vokabeltrainer in einer Welt, die sich in Tiktok-Multiformat-Sprache unterhält. Hauptsache, die Grammatik stimmt – ob jemand zuhört und uns folgen kann, spielt keine Rolle. Und wir fühlen uns wohl dabei, zumindest meistens.
Doch ein klassischer Satz der Management-Lehre von der Veränderung gilt für uns alle: What got you here, won’t get you there. Also: Was Sie hierher gebracht hat, wird Sie nicht weiterbringen.
Ein selbstgebauter Käfig
Hierher – das ist der bundesrepublikanische Wohlstand, verbunden mit einer Selbstzufriedenheit, die zur Überheblichkeit neigt, insbesondere gegenüber den europäischen Nachbarn: Die Wirtschaft Italiens ist in den vergangenen fünf Jahren fünfmal so schnell gewachsen wie unsere, die französische doppelt so stark, und selbst die von uns gern gemaßregelten Griechen schaffen in diesem Jahr voraussichtlich ein Wachstum von 2,3 Prozent.
Ein Teil dieser Zuwächse mag mit Staatsschulden erkauft sein. Das Ausland fragt sich aber zurecht, warum wir uns, bei höchster Kreditwürdigkeit, selbst strangulieren. Die Schuldenbremse ist nur ein Beispiel dafür, wozu das tatsächliche deutsche Problem führt: Wir setzen uns selbst unnötig starre Regeln, sperren uns freiwillig in Silos, in denen schnell die Luft ausgeht, und machen nicht das, was am dringendsten gebraucht wird: Vernetzt denken und mit frischen Ansätzen zu reagieren, wenn sich das Umfeld ändert.
Ist das eine neue Erkenntnis? „Innovationsfähigkeit fängt im Kopf an, bei unserer Einstellung zu neuen Techniken, zu neuen Arbeits- und Ausbildungsformen, bei unserer Haltung zur Veränderung schlechthin.“ Stimmt. Hat wer gesagt? Und wann genau? Roman Herzog, in seiner berühmten Ruck-Rede, im Jahr 1997. Also vor bald 30 Jahren. Und auch das hat Herzog gesagt: „Die mentale und die intellektuelle Verfassung des Standorts Deutschland ist heute schon wichtiger als der Rang des Finanzstandorts oder die Höhe der Lohnnebenkosten.“
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Der Ruck kam nur zweitweise, es gab die Agenda 2010, und in den Nullerjahren brachen recht gute Zeiten an. Das billig erkaufte, vom Export getriebene Wachstum, hat jahrelang überdeckt, wie wenig wir uns im Kern verändert haben. Es ruckelt durchaus: An unseren Top-Universitäten, in erfolgreichen Start-ups oder pharmazeutischen Laboren. Das alles aber bringt uns nicht dorthin, wo wir längst sein müssten: In eine Wissensgesellschaft, die risikofreudig experimentiert. Die neue Geschäftsmodelle entdeckt und finanziert, und mutig neue Technologien integriert, statt sie primär zu regulieren.
Dafür brauchen wir keinen Ruck, sondern einen Rumms.
Alte und neue Lösungen
Nur: Woher kommt der? Jeder von uns muss willens sein, sein Denken und Handeln neu auszurichten. Das gelingt nur, wenn wir die Realität anerkennen, zugleich aber die Angst abschütteln vor der Zukunft. Menschen ändern sich nicht unter Angst und Druck, Organisationen sind erst recht starr, ganze Gesellschaften entwickeln sich erst recht langsam. Kleine Schritte sind aber durchaus möglich – wenn das übergeordnete Ziel stimmt. Und möglichst sorgenfrei leben will jeder von uns, trotz aller Polarisierung, da sind wir uns doch einig. Wirtschaftswachstum ist dabei nur einer von vielen Faktoren, aber ohne fällt, das lehrt die Vergangenheit, alles andere schwer.
Die Schlagzeilen sind voll mit Aussagen von Unternehmenslenkern und Verbandschefs, die Forderungen an die Politik stellen. Ja, wir brauchen weniger Bürokratie, und für deren gesetzlichen Teil sind Regierung und Parlamente zuständig. Aber noch viel wichtiger ist es, dass die Privatwirtschaft sich selbst in die Pflicht nimmt. Viele deutsche Konzerne ticken genauso bürokratisch wie ein Abwasserzweckverband. Der Lösungsraum begrenzt sich in schlechten Zeiten dann darauf, den (Geld-)Hahn abzudrehen. Innovative Ansätze werden überhastet beendet, Ideengeber entlassen.
Wie lösen wir das deutsche Problem der Starrheit im Denken und Handeln, der antrainierten Fantasielosigkeit? Indem wir aufhören, schon unsere Kinder an den Schulen mit frühem Leistungsdruck in starren Fächergrenzen zu unterrichten. Indem wir in den Unternehmen Jobrotationen einführen, die einen Tunnelblick verhindern. Indem wir lebenslang und interaktiv lernen, statt eingetrichtertes Wissen zu recyceln. Vor allem aber, indem wir uns selbst täglich hinterfragen: Was treibt mein Handeln? Geht es ums kurzfristige Absichern, oder auch ums langfristige Vorankommen? Und geht es mir dabei nur um mich selbst, oder auch meinen Beitrag zum großen Ganzen?
Das deutsche Problem anzugehen, ist eine komplexe Übung unter einem Bombardement von schlechten Nachrichten. Leider gibt es keine Therapeuten-Couch, die groß genug für uns alle ist. Wir hätten allerdings auch gar nicht die Zeit, darauf herumzuliegen und allmählich das Licht der Gegenwart durch die Vorhänge hereinzulassen, während wir unsere Traumata bearbeiten. Wir müssen sofort die Fenster aufreißen, Luft holen, unsere Energie nach vorne richten.
Das Gute daran, dass wir selbst die Schuld an der neuen Krise tragen? Wir können die Krise auch selbst beheben. Und dieses Mal bitte aus eigener Kraft. Nur wenn wir unsere Denkschablonen zerbrechen, mutig neue Wege ausprobieren, Fehler zulassen und korrigieren: Nur dann entwickeln wir das gesellschaftliche System in Deutschland so weiter, dass es uns den Wohlstand, den wir uns erhoffen, auch weiterhin garantiert. Stillstand, Regeltreue und Denkfaulheit dagegen stärken die Feinde dieses Systems. Und davon gibt es wahrlich genug.