Bei einem Routinecheck fallen die miserablen Leberwerte einer Frau auf. Ihr Krebsmedikament könnte die Ursache sein. Oder liegt es an ihrem neuen Tee?
Die Frau kam eigentlich nur zur Kontrolluntersuchung in die Uniklinik von Grenoble. Doch was die Ärztinnen und Ärzte in ihrem Blut fanden, war besorgniserregend: katastrophale Leberwerte. Vor allem der massiv gestiegene Spiegel eines bestimmten Enzyms deutete darauf hin, dass ein Teil der Leberzellen sich aufzulösen begann.
Dass die Patientin anscheinend nichts davon gemerkt hatte, war nicht ungewöhnlich: Oft werden Leberschäden erst spät entdeckt, weil das Lebergewebe nicht von schmerzleitenden Nerven durchzogen ist.
Was hatte der Leber so zugesetzt?
Die Frau hatte tatsächlich ein Leberrisiko – aufgrund eines Medikaments, das sie nahm. Sie war Tumorpatientin, 48 Jahre alt, und litt an einer Form von Lungenkrebs mit einer unangenehmen Eigenschaft: In den Krebszellen war ein Gen überaktiv, das die Zellen ständig antrieb, zu viel von einem Enzym aus der Gruppe der Tyrosinkinasen zu produzieren. Diese Enzyme steuern – solange es gut läuft – die reibungslose Signalübertragung von Körperzelle zu Körperzelle. Außer Rand und Band geraten, treiben Tyrosinkinasen aber auch das Wuchern von Tumoren voran, so wie bei dieser Patientin. Um die überaktive Tyrosinkinase auszubremsen, hatte die Frau nach ihrer Chemotherapie einen Enzymblocker verschrieben bekommen. Zweimal täglich schluckte sie den Tyrosinkinase-Hemmer Crizotinib. Dieses Medikament kann in der Tat auch die Leberenzyme beeinflussen.
STERN PAID Gesund leben 02_23 Ausschlag
Die Ärzte machten einen Ultraschall, sahen aber nur eine leichte Fettleber. Andere Laborwerte für Viren, Parasiten oder Autoimmunkrankheiten blieben unauffällig. Zur Abklärung wurde eine Leberbiopsie angeordnet. In dem entnommenen Gewebe fanden sich tatsächlich typische Zellschäden einer Hepatitis, die durch Medikamente verursacht wird. War das Tumormittel schuld? Doch die Frau schluckte Crizotinib seit mehr als einem Jahr – und ihre Leberwerte waren stets im grünen Bereich gewesen. Erst vor Kurzem war ein Enzymwert dramatisch in die Höhe geschossen. Übrigens auch der Crizotinib-Spiegel im Blut – obwohl sie an der Dosierung nichts verändert hatte. Der Crizotinib-Wert stieg sogar noch zwei Tage weiter, nachdem die Frau das Krebsmittel abgesetzt hatte. Was war los in ihrem Körper?
Ingwertee mit Wechselwirkung
Im Gespräch erzählte die Patientin von einem neuen Lieblingsgetränk: Tee aus geraspeltem Ingwer mit Zitronensaft und Honig. Seit ein paar Wochen trank sie davon oft mehr als einen Liter pro Tag. Ingwer gilt als entzündungshemmend und kann Übelkeit lindern, ist aber auch für mögliche Wechselwirkungen mit Arzneien bekannt: Herzpatienten, die Blutverdünner nehmen, wird von Ingwer eher abgeraten, weil die Pflanze im Verdacht steht, die Gerinnung zu stören. Aus Laborversuchen ist bekannt, dass Ingwer die Entgiftungssysteme der Leber hemmt – etwa das Enzym Cyp3A4, das auch Crizotinib abbaut.
Da die Ärzte andere Ursachen der Hepatitis ausschließen konnten, hielten sie es für sehr wahrscheinlich, dass das Crizotinib die Leber angegriffen hatte, nachdem der Ingwertee die Entgiftung lahmgelegt hatte. Die Patientin sollte erst mal beides absetzen. Nach drei Monaten hatte sich ihre Leberfunktion normalisiert. „Ärzte wie Patienten sollten sich bewusst sein, dass zwischen Arzneipflanzen und verordneten Medikamenten Wechselwirkungen möglich sind“, warnen die Autoren in ihrer Fallstudie, die im „British Journal of Clinical Pharmacology“ erschien.
Dieser Text erschien zuerst im März 2023.