Viele Unternehmen wünschen sich von ihren Mitarbeitenden wieder mehr Präsenz im Büro, Amazon schafft das Homeoffice ganz ab. Sinnvoll ist das nicht, sagt ein Homeoffice-Forscher.
Herr Kunze, der Handelskonzern Amazon bestellt seine Mitarbeiter ab Januar wieder an fünf Tagen in der Woche zurück ins Büro. Homeoffice ist nur noch in Ausnahmefällen erlaubt, so wie vor der Pandemie. Rollt bald eine Kündigungswelle auf Amazon zu?
Ich würde durchaus vermuten, dass die Fluktuation ansteigt – auch wenn das natürlich Spekulation ist. Die Studienlage zeigt, dass die Fluktuation im Zusammenhang mit Präsenzregelungen um bis zu ein Drittel zunimmt. Ich vermute, dass das einer der Gründe für die Entscheidung von Amazon ist: Sie wollen indirekt Leute entlassen. Das auf diese Art zu machen, halte ich allerdings nicht für besonders klug, weil sie höchstwahrscheinlich sehr gefragte Talente kosten wird, die das Unternehmen eigentlich braucht. Disclaimer Capital
Amazon-Chef Andy Jassy begründet den Schritt damit, dass so die erfolgreiche Unternehmenskultur erhalten werden soll. Das halten Sie also nicht für glaubwürdig?
Es stimmt, dass die Identifikation, der Zusammenhalt und die sozialen Beziehungen insgesamt darunter leiden, wenn vollständig remote gearbeitet wird. Aber in dieser Situation sind wir gar nicht, auch bei Amazon nicht. Wir sind in der hybriden Arbeitswelt, in der es durchaus Präsenz gibt. Identifikation bedeutet eine emotionale Bindung zu haben und die wird durch eine strenge Regel kaum gestärkt, sondern wahrscheinlich sogar massiv geschwächt, weil Mitarbeitende sich gegängelt fühlen. Die machen das dann vielleicht noch eine Zeit lang mit, aber nur weil sie gut bezahlt werden.
Sind die Mitarbeitenden, die am Ende übrig bleiben, dann diejenigen, die Amazon eigentlich haben möchte? Die mit Druck besser umgehen können?
Das würde bedeuten, dass die Führungsetage Präsenz mit Leistung gleichsetzt. Präsenz soll eine höhere Produktivität sicherstellen, mit wissenschaftlichen Studien ist das aber nicht belegt. Die Produktivität hängt von der Tätigkeit ab: Etwas Individuelles kann ich sehr gut zu Hause machen. Für etwas, das viel Interaktion mit dem Team bedarf, brauche ich mehr Präsenz. Dass diejenigen, die am präsentesten sind, auch am meisten zum Unternehmenserfolg beitragen, würde ich bezweifeln. Außerdem lässt man durch eine strenge Präsenzregel viele Potenziale ungenutzt, weil zum Beispiel Frauen und andere benachteiligte Gruppen Flexibilität brauchen, um produktiv arbeiten zu können und bessere Karrierechancen zu haben.
Gibt es denn Gründe, die für eine vollständige Präsenzpflicht sprechen?
In bestimmten Arbeitsphasen, bei einem neuen Projekt oder um neue Kollegen einzuarbeiten, ist eine verstärkte Präsenz an vier oder sogar fünf Tagen durchaus sinnvoll. Bei einigen Tätigkeiten ist die Präsenz natürlich zwingend erforderlich, zum Beispiel in der Produktion oder Pflege. Aber bei Bürojobs ist es nicht notwendig, an fünf Tagen in der Woche ins Büro zu kommen. In Deutschland eignen sich 40 Prozent der Jobs für das mobile Arbeiten.
Mit Ihrer Langzeitstudie zum Homeoffice untersuchen Sie seit Beginn der Pandemie, wie sich das Homeoffice langfristig auf Beschäftigte und Unternehmen auswirkt. Die neuesten Daten vom Mai dieses Jahres zeigen vor allem große Unterschiede zwischen den Ansichten von Führungskräften und den restlichen Mitarbeitenden. Führungskräfte haben verstärkt den Eindruck, dass die Kommunikation und Effizienz der Prozesse durch das Homeoffice leiden. Warum unterscheiden sich die Wahrnehmungen?
Führungskräfte haben andere Ziele im Blick als einzelne Mitarbeitende, die jetzt häufig maximale Flexibilität wollen. Die Remote-Arbeitswelt bringt definitiv Herausforderungen mit sich, vor allem in der Kommunikation. Meine Hypothese ist, dass Führungskräfte von der neuen Situation auch sehr gestresst sind und Ihnen die alte Situation, in der sie vermeintlich mehr Kontrolle hatten, Sicherheit bietet.
Liegt es auch daran, dass Führungskräfte unter größerem Druck stehen, wirtschaftliche Ziele zu erreichen?
Ja, unter anderem. Die Langzeitstudie zeigt auch: Je höher die Hierarchieebene, desto kritischer werden die Führungskräfte gegenüber mobilem Arbeiten. Sie denken, man könnte einfach ein Schema vorgeben und ein Problem mit einer Top-Down-Entscheidung lösen, was in der Praxis aber nicht funktioniert. Besonders unter Druck stehen die mittleren Führungskräfte, die sowohl ihren Mitarbeitenden gerecht werden als auch die Zielvorgaben von oben erfüllen müssen – und das alles mitten in einer Transformation.
Hat die Präsenzarbeit tatsächlich messbaren Einfluss auf den Unternehmenserfolg?
Das kann man nicht so genau sagen, weil es viele verschiedene Tätigkeiten in einem Unternehmen gibt. Objektive Werte gibt es nur für individuelle Tätigkeiten, bei denen die Produktivität im Homeoffice um 13 Prozent steigt. Meine These lautet: Unternehmen mit einer strikten Präsenzregel werden langfristig Produktivitätseinbußen haben. Denn zwei wesentliche Indikatoren für die Produktivität könnten sich negativ entwickeln: Zum einen sind Mitarbeitende weniger leistungsfähig und gestresster, weil ihre Belastung durch weniger Flexibilität zunimmt. Dann können sie weniger schwere Aufgaben wahrnehmen oder sogar ausfallen. Zum anderen nimmt die Fluktuation zu und wenn ich viele gute Arbeitskräfte verliere, leidet auf Dauer die Produktivität.
Ist denn gar nichts dran an dem Eindruck vieler Unternehmen, dass es sich die Angestellten zu Hause zu bequem gemacht haben?
Ich würde es nicht bequem nennen. Die neue Arbeits- und damit verbundene Lebenssituation sind für viele deutlich angenehmer. Sie können Betreuungsaufgaben besser wahrnehmen und haben mehr Autonomie bekommen, ihren Arbeitstag zu gestalten. Das bedeutet nicht, dass es keinen Missbrauch oder Probleme gibt. Insgesamt führt die Autonomie im Homeoffice aber zu einer intrinsischen Motivation, die Unternehmen entsprechend kanalisieren sollten. Dann gibt es auch keinen Widerspruch.
Die Homeofficestudie soll vor allem zeigen, wie sich das Homeoffice auf emotionale Erschöpfung auswirkt. Wie hängt das mit der Präsenzpflicht zusammen?
Anhand der aktuellen Daten können wir noch keinen kausalen Zusammenhang erkennen. Trotzdem sind sie interessant: Die gefühlte Belastung und Erschöpfung ist bei allen, die unter strikten Präsenzregeln arbeiten müssen, fast doppelt so hoch wie bei denen mit lockeren Regeln. Eine Erklärung dafür sind längere Pendelwege, aber auch, dass die eigene Freiheit wieder eingeschränkt wird.
Wie können Führungskräfte den Übergang vom Homeoffice zurück zur Präsenzarbeit gestalten, um Widerstände zu verringern?
Ich rate zu offener Kommunikation. Mitarbeitende verstehen dann meistens, warum Präsenzarbeit notwendig und sinnvoll ist, und kommen mit größerer Motivation ins Büro. Wichtig ist, dass sich der Bürotag auch wirklich lohnt, weil es zum Beispiel viele Austauschmöglichkeiten gibt. Wenn die Mitarbeitenden die Pendelstrecke in Kauf nehmen, ihre persönliche Flexibilität einschränken und dann im Büro den ganzen Tag in Videokonferenzen sitzen, ist das wenig motivierend.
In vielen deutschen Unternehmen sollen die Angestellten gerade an drei Tagen ins Büro kommen. Hat Amazon jetzt etwas angestoßen, das unsere Arbeitswelt wieder ganz zurückdrehen wird zu Vor-Pandemiezeiten?
Die größeren deutschen Dax-Konzernen beobachten sehr genau, was in den USA passiert und orientieren sich teilweise daran. Das war etwa beim Homeoffice so oder bei agilen Arbeitsformen und könnte auch jetzt wieder passieren. Ich glaube aber keinesfalls, dass sich eine Präsenzregelung von fünf Tagen in der Breite der Wirtschaft durchsetzen lässt. Großunternehmen wie Amazon oder in Deutschland SAP und die Deutsche Bank denken, dass sie so eine hohe Strahlkraft haben und so ein attraktiver Arbeitgeber sind, dass sie sich das leisten können. In der Breite müssen viele Unternehmen sich aber bemühen, überhaupt noch Bewerberinnen und Bewerber zu bekommen und die guten Leute zu halten. Auch wenn der Arbeitsmarkt zuletzt angespannter geworden ist, aber sind Mitarbeitende in einer sehr guten Verhandlungsposition und können verhindern, dass es eine komplette Rolle rückwärts geben wird.