Im politischen Meinungskampf bricht regelmäßig der Faschismus aus oder kommt die DDR wieder um die Ecke. Warum das nicht nur nervt, sondern auch kontraproduktiv ist.
Die Vorstellung, dass wir unser Leben auf diesem Partikel des Universums planen könnten, gehört zu unseren bevorzugten Illusionen. Selbst die wichtigsten privaten Entscheidungen, ob nun über Partner, Kinder oder Beruf, sind oftmals von Umständen, Affekten und Zufällen abhängig.
Dasselbe lässt sich über unsere schiere Existenz sagen. Oder wie haben sich einst Ihre Eltern kennengelernt? Eben.
Auch in der Politik, die, selbst wenn wir dies gerne verdrängen, von fehlbaren Menschen wie uns gemacht wird, sind künftige Ereignisse nur bedingt planbar. Ein Lachen zum unpassenden Zeitpunkt, ein Aussetzer in einem Rededuell, eine Kurve auf einer Skipiste: Und alles ist plötzlich ganz anders.
Das kommt, wie es kommt, das können wir kaum beeinflussen – sehr wohl aber, wie wir später darüber reden, was wir daraus machen. Und davon möchte ich heute schreiben.
Vor bald fünf Jahren, am 5. Februar 2020, saß ich im Thüringer Landtag auf der Pressetribüne und beobachtete die Wahl des Ministerpräsidenten. Es war der dritte Wahlgang, und das Parlament hatte die Wahl zwischen dem geschäftsführenden Linke-Regierungschef Bodo Ramelow, einem parteilosen, von der AfD aufgestellten Dorfbürgermeister und dem cowboybestiefelten FDP-Landeschef Thomas Kemmerich.
Was einige ahnten, aber nur ausgewählte Mitglieder der AfD wussten: Die von Björn Höcke geführte Fraktion wählte in der geheimen Abstimmung nicht den eigenen Kandidaten, sondern Kemmerich. Und so kam der FDP-Mann auf 45 Stimmen, das war eine Stimme mehr als Ramelow – und tat dann das, was sein Leben veränderte (und meins ein wenig mit): Er nahm die Wahl an.
Nun ist es nicht so, dass die Beteiligten keine Pläne gehabt hätten. Doch der einzige Plan, der halbwegs funktionierte, war der von der AfD. Und selbst der war riskant.
Kommentar Thüringen Landtag11.45
Hätte die rot-rot-grüne Koalition nicht eine Wahl ohne Mehrheit angesetzt, hätte die AfD nicht in letzter Minute einen tumben Scheinkandidaten gefunden, hätte sich die CDU nicht mit sich selbst verkämpft, hätte nur ein einziger Abgeordneter anders entschieden – oder hätte Thomas Kemmerich, so hieß der Regierungschef ohne Regierung, nicht einfach Ja zum vergifteten Amt gesagt, dann, ja, dann wäre damals in Thüringen nicht der Faschismus ausgebrochen.
Ja, Sie lesen richtig: Faschismus. Drunter machten es viele Politiker, Aktivisten und manche Journalisten nicht. Es wurden nicht bloß historische Parallelen zur Weimarer Republik gezogen, die sich insbesondere in Thüringen aufdrängten: Nein, es musste gleichgesetzt werden. Auch Höcke konnte nicht nur der sein, der er ist, nämlich ein Rechtsextremist. Nein, er musste ein Nazi sein, und jeder, der seiner Fraktion und Partei angehörte, gleich mit.
Viereinhalb Jahre nach jenem Wintertag saß ich kürzlich wieder auf der Pressetribüne im Landtag. Es war sogar derselbe Platz. Wieder waberte Geschichte durch die verbrauchte Luft. Die AfD war bei der Landtagswahl erstmals in einem deutschen Parlament stärkste Fraktion geworden und besaß das Vorschlagsrecht für den Präsidenten. Und sie stellte den Alterspräsidenten, der die zugehörige Wahl leitete.
Wieder gab es mächtig gewaltige Pläne. Der Alterspräsident war von seiner AfD instruiert worden, vor der Wahl des echten Präsidenten keinesfalls die kurzfristig auf die Tagesordnung gesetzte Änderung der Geschäftsordnung aufzurufen. Denn diese Novelle würde das alleinige Vorschlagsrecht tilgen.
Die Realität hielt sich nicht ans Programm
Alle anderen Fraktionen, die gemeinsam die Mehrheit besitzen, wollten hingegen erst das Regelwerk zu ihren Gunsten ändern, um danach einen Parlamentsvorsteher der CDU zu wählen.
Die Realität hielt sich auch diesmal nicht ans menschenerdachte Programm. Der Alterspräsident, ein pensionierter Ingenieur aus Sonneberg, war mit dem Propagandaskript heillos überfordert und überkompensierte sein Unvermögen mit dreister Amtsanmaßung. Die anderen Parteien reagierten erratisch bis panisch und übten sich in Skandalisierung. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU, ein sonst klug und überlegt auftretender Mann, rief gar: „Was Sie hier treiben, ist Machtergreifung.“
Ernsthaft? Tatsächlich hatte sich die AfD, was sie später auch genüsslich in ihren Kanälen ausbreitete, nur an die geltende Geschäftsordnung gehalten und auf ein in Deutschland nahezu immer beachtetes parlamentarisches Gewohnheitsrecht bestanden.
Ja, sie musste sich nicht einmal wie sonst üblich die Opfergeschichte selbst ausdenken: Sie hatte eine geschenkt bekommen, inklusive eines Verfassungsgerichts, das die tatsächlichen Abläufe im Landtag eher kreativ auslegte. Dass sich ein Richter, dessen Sohn zur klagenden CDU-Fraktion gehörte, nicht für befangen erklärte, um jeden falschen Anschein zu vermeiden, rundete das von der AfD erwünschte Bild ab.
Und so war es wieder wie einst im Februar. Der wieder geschäftsführende Linke-Ministerpräsident verschickte per Telegram einen Brief Hitlers, in dem dieser die erste Regierungsbeteiligung der NSDAP (es war natürlich in Thüringen) abfeierte, während in den linken Netzblasen ein passendes Zitat von Goebbels viral ging. Gleichzeitig wurde auf der rechtsäußeren Seiten verlässlich von der Wiederauferstehung der DDR gefaselt.
Der Vorgang repräsentierte damit den Zustand der politischen Debatte in Deutschland: Die einen sind für die Demokratie, die anderen für die Diktatur. Und umgekehrt. Zwischen dieser doppelten Geschichtsklöppelei gibt es wenig.
Die Übergriffigkeit ist da
Nun will ich nicht denselben Fehler begehen, den ich gerade beschrieben habe, also Dinge gleichsetzen, die sich in ihrer Anmutung ähneln, aber in ihrem Wesen grundsätzlich unterscheiden. Denn selbst wenn die AfD nicht einfach eine Neo-NSDAP ist, so ist sie doch eine radikalpopulistische und in immer größeren Teilen rechtsextreme Partei. Und selbst wenn die sogenannten etablierten Parteien oft genug aus eigennützigen und ideologischen Gründen handeln, so agieren sie doch auf einer Wertebasis, auch freiheitlich-demokratische Grundordnung genannt.
Doch die Übergriffigkeit ist da, im Handeln und in der Kommunikation. Sie zeigte sich etwa mit den Schutzmaßnahmen während der Corona-Pandemie, die selbstverständlich keine Vorboten einer Diktatur waren, aber sich doch teils als unverhältnismäßig oder rechtswidrig erwiesen. Und sie zeigt sich in der Sprache. Wer umstandslos mit Kategorien wie „Corona-Leugner“, „Nazis“ und „Putinisten“ operiert, spiegelt unfreiwillig verhetzende, die NS-Zeit echoende Begriffe wie „Kartellparteien“, „Lügenpresse“ und „Volksverräter“.
Immer muss es die maximal deutsch-diktaturgeschädigte Eskalation sein. Nicht nur jene, die eine geschichtspolitische Wende um 180 Grad einfordern und „Alles für Deutschland“ schreien, relativieren die singulären Verbrechen des Nationalsozialismus. Auch wer Begriffe unpräzise und ahistorisch verwendet, entleert sie ihrer Bedeutung.
Nun kann ich aus der Erfahrung sogenannter Shitstorms mögliche Einwände gegen meine Argumentation antizipieren: Ich verharmlose die rechtsextremistische Gefahr, schmiede Alu-Hufeisen und hätte im Übrigen nichts verstanden. Und, wer weiß, vielleicht gehöre ich ja auch insgeheim zu den, na, Sie wissen schon?
Was stimmt: Ich habe keine Antworten. Ich suche danach. Doch wer diese Anstrengung scheut, wer sich seiner selbst zu gewiss ist, trägt womöglich nur dazu bei, dass genau das eintreten kann, was nicht eintreten soll.