Der Vater der modernen Windräder wäre heute 100 Jahre alt geworden. In der Windenergie ist sein Name fast vergessen. Doch Segelflieger kennen ihn noch, weil er ihren Sport nachhaltig veränderte: Eugen Hänle.
Es ist 1955. Die Bundesrepublik tritt in die NATO ein, das Bruttosozialprodukt wächst zweistellig, Robert Lembke startet seine Rateshow „Was bin ich?“, und in einer kleinen Küche unweit von Stuttgart entsteht die Grundlage der modernen Windkraftanlage. Der junge Ingenieur Eugen Hänle brachte seiner technikbegeisterten Frau Ursula eine Dose Polyesterharz, ein paar Tuben mit verschiedenen Härtern und eine Rezeptanleitung mit nach Hause. „Das musst Du mal mischen, genau nach der Gebrauchsanweisung, Schreib auf, bei welcher Temperatur es wie lange dauert, bis es härtet. Und dann verbrennst Du auch mal eine Probe!“. Die letzte Anweisung sollte die frisch geweißte Küche ruinieren. Kokelndes GFK rußt extrem.
Eugen und Ursula Hänel experimentieren n der heimischen Küche. Ursula Hänle ist bis heute die einzige Frau, die Segelflugzeuge selbst konstruierte und in Serie fertigte.
© Archiv Ursula Hänle
Der 31-jährige Hänle war auf der Suche nach einem neuen Werkstoff, mit dem sich Windkraftanagen von zuvor ungekannter Größe und Leistung verwirklichen ließen. Rotorflügel mit einer Länge von 17 Metern sollten einen Generator mit einer Nennleistung von 100 Kilowatt antreiben. Windkraftanlagen dieser Zeit hatten Rotoren von zehn Metern Länge und 6 Kilowatt Leistung. Hänle war klar: mit dem bisher verwendeten Stahl war das nicht zu schaffen. Der war nicht nur zu schwer, fraglich war, ob die Schweißnähte der Belastung überhaupt standhielten. Eine Alternative musste her.
Kunststoff statt Stahl
Mit Glasfasern verstärkter Kunststoff war zwar nicht neu, jedoch kaum verbreitet. In den USA wurde „Fiberglas“ bereits Mitte der 30er- Jahre in der Hausdämmung verwendet, 20 Jahre später im Automobilbau. In Deutschland befassten sich Wissenschaftliche Lehrbücher mit den Möglichkeiten des GFK im Flugzeugbau. Doch wie haltbar der Kunststoff auf Zeit und bei hohen Belastungen überhaupt sein würde, wusste niemand. Glasfaser war Neuland und vieles Theorie.
Eines der letzten Fotos von Eugen Hänle kurz vor dem tödlichen Flugzeugabsturz.
© Archiv Ursula Hänle
Die 1949 gegründete „Studiengemeinschaft Windkraft e.V.“ sollte die Theorie in der Praxis erproben. Zu den Gründungsmitgliedern zählen Energieversorger, die AEG und die Allgaier Werke, der Arbeitgeber Eugen Hänles. Unter der Leitung von Ulrich Hütter entwarf und baute Hänle die Rotorblätter. Sein Team atmete einen ähnlichen Pioniergeist wie Jahrzehnte später die zahlreichen Garagen-Start-ups im Silicon-Valley. Da Rotorblätter im Grunde Flügel sind, holte Hänle sich für die Herstellung der Negativformen Hilfe beim örtlichen Segelfliegerclub und befreundeten Piloten. Tagsüber waren die meisten von ihnen berufstätig, gearbeitet wurde daher überwiegend nachts.
Die größte Herausforderung war das Befestigen der gewaltigen Blätter an die Nabe des Generators. Hier traten durch die Rotation erhebliche Kräfte auf, Fachleute sprechen von der Krafteinleitung in das Material. Alles Mögliche wurde probiert, immer wieder brach der Rotor ab. Dann kam Eugen Hänle auf jene Idee, die bis heute das Standardverfahren in der Herstellung von Rotorblättern bei Windkraftanlagen ist: das nach Hänle und Ulrich Hütter benannte HH-Verfahren.
Mit dieser Zeichnung hat Hänle seine Idee veranschaulicht und zum Patent vorbereitet. In Deutschland wurde das Verfahren nicht patentiert, aber im Ausland.
© Archiv Hänle
Wie der Name Glasfaser schon sagt, erhält der Kunststoff seine Festigkeit durch die in ihn eingelegten Bündel dünner Endlos-Glasfasern, den sogenannten Rovings. Hänles Einfall war einfach, aber genial: Er schlang die noch weichen Glasfasern wie Haarbündel um viele Befestigungspunkte, die ringförmig am Ende des Rotorblattes angeordnet waren. Voraussetzung war jedoch das gleichmäßige Tränken der Rovings mit Kunstharz und das gleichmäßige Ausziehen der Stränge. Dafür gab es weder Verfahren noch Maschinen. Hänle erfand beides.
„Noch heute ist diese Rovingziehvorrichtung die Voraussetzung für nahezu jeden Betrieb, der GFK oder CFK verarbeitet“, sagt Wolfgang Binz. Der Jurist und passionierte Segelflieger hat 2021 ein Buch über Eugen Hänle geschrieben. Dass heute vor allem Ulrich Hütter das Verdienst zugeschrieben wird, ärgert ihn ein wenig. “Hütter war zwar der Leiter, doch ohne den Einfallsreichtum Hänles, hätte der das niemals hingekriegt“, so Binz.
Wolfgang Binz: Glasflügel. Eugen Hänle – Der Pionier des GfK-Flugzeugbaus.
Am 4. September 1957 war es so weit, das Windrad wurde auf der Schwäbischen Alb zwischen Stötten und Schnittlingen in Betrieb genommen. Das Kraftwerk lief rund um die Uhr und erzeugte bei 8,5 Km/h Windgeschwindigkeit die damals unglaublichen 100 Kilowatt Strom. „Der wirtschaftliche Erfolg stellte sich jedoch nicht ein. Diesel-Aggregate waren einfach viel günstiger in Anschaffung und Unterhalt. Dazu kam noch der beginnende Aufstieg der Atomenergie“, bilanziert Binz. Elf Jahre später wurde die Anlage abgerissen und „Studiengemeinschaft Windkraft“ aufgelöst.
Diesel und Atomstrom würgten die Windenergie ab
Doch da war Eugen Hänle schon nicht mehr dabei. Er hatte die vielfältigen Möglichkeiten des GFK erkannt und mit seinem umfangreichen Wissen in der Verarbeitung 1957 sein eigenes Start-up gegründet: Glasflügel. Hänle stellte Rotorblätter für Bölkow her, Propeller, Lampenschirme, Lüfterflügel für Kühltürme und Gebläseräder für Porsche und BMW. „Porsche verbaute ein Gebläserad von Glasflügel in einen Achtzylinder-Formel-1 Motor. Aus der Zusammenarbeit entwickelte sich eine Freundschaft zwischen Hänle und Ferdinand Porsche“, schwärmt Binz.
Das Geschäft lief gut, urteilt Binz, der sich für sein Buch durch die alten Bilanzen gearbeitet hat. Die Hänles starteten ohne Eigenkapital und erwirtschafteten bereits drei Jahre später eine Umsatzrendite von 19 Prozent bei einem Umsatz von rund 137.000 D-Mark, was heute 321.000 Euro entspricht. Die Mitarbeiterzahl stieg zwischen 1959 und 1961 von zwei auf 17. „Hänle war ein guter Unternehmer“, resümiert Binz. Er habe seinen Mitarbeitern sehr viel Entscheidungsfreiraum gelassen und ihre Ideen dann mit dem wirtschaftlich Machbaren abgeglichen.
GfK im Segelflugzeugbau veränderte alles
Sowohl Eugen Hänle als auch seine Frau Ursula waren begeisterte Segelflieger. Bis 1950 war jede Form von Flugsport in Deutschland verboten. Ursula Hänle hatte sich schon kurz nach dem Krieg für die Wiederzulassung des Segelflugs in Deutschland mit Unterschriftenaktionen stark gemacht. Ein Segelflugzeug aus Glasfaser wäre ein Quantensprung in der Flugleistung. Bisher bestanden die leichten Flieger aus mit Stoff bespannten Stahl- und Holz-Gerippen. Wie so etwas funktionieren kann, hatte Hänle bereits in seiner Windkraftzeit gesehen, rein zufällig. In einem Schuppen gleich neben der Studiengemeinschaft für Windkraft tüftelte ein Flugzeugkonstrukteur am weltweit ersten GFK-Segelflugzeug, der fs24 Phönix. „Und wie das bei Garagen-Startups so ist, tauschten die beiden benachbarten Glasfaser-Poniere ihre Erkenntnisse aus“, sagt Binz.
Geburt einer Legende: Die Glasflügel Libelle
Ihre unverwechselbare Form sichert der Libelle bis heute einen Liebhaberstatus. Hier eine der ersten Libellen 201 überhaupt. Sie fliegt heute noch und ist im Besitz von Christian Deubig, dem Vorsitzenden des Glasflügel-Fördervereins.
© Christian Deubig
Jahre später flossen seine Erfahrungen in der Verarbeitung von Glaserfaser und im Flugzeugbau in einem legendären Segelflugzeug zusammen: Der „Libelle“, dem ersten in Serie gebauten GFK-Segelflugzeug. „Hänle hatte einen Markt geschaffen, den es vorher nicht gab“, so Wolfgang Binz. Zwischen 1964 und 1969 produzierte Glasflügel mehr als 100 Libellen, die erste Massenproduktion eines Glasfaserflugzeugs weltweit. Rund 800 weitere sollten folgen. In den USA gehörten die Libellen zeitweise zu den beliebtesten Wettbewerbsflugzeugen. Einer der Besitzer war Neil Armstrong, der erste Mensch auf dem Mond. Die Libelle mit ihrer unverkennbaren Form war ihrer Zeit weit voraus und führte technische Merkmale ein, die sich Jahrzehnte später erst zum Standard im Segelflug etablieren sollten. Heute fliegen noch rund 400 Exemplare und stehen deutlichen jüngeren Segelflugzeugen kaum nach.
Die Libelle ist auch 60 Jahre später ein gefragter Oldtimer. Hier eine liebevoll gepflegte Club-Libelle mit Christian Horn am Steuerknüppel.
© Tobias Heinl
Am 21. September 1975 kam Eugen Hänle beim Absturz eines Schleppflugzeuges ums Leben. Seine Firma wurde von Klaus Holighaus von Schempp-Hirth übernommen, einem der heute größten Hersteller von Segelflugzeugen. Sieben Jahre später wurde Hänles Firma vollständig abgewickelt. Doch Glasflügel lebt weiter. Hanko Streifeneder, einer der engsten Mitarbeiter Hänles, versorgt zusammen mit seinem Sohn Christian in seinemGfK-Betrieb Streifly die Glasflügel-Flugzeuge weltweit mit Ersatzteilen und Verbesserungen. Im Glasflügelmuseum auf dem Firmengelände halten Vater und Sohn die Erinnerungen an die Hänles wach. Dort findet auch am 5. Oktober die Gedenkveranstaltungen von Glasflügelpiloten aus aller Welt statt.
Ursula Hänle hilft ihrem Mann beim Anschnallen. Gewöhnlich saß die begeisterte Segelfliegerin jedoch selbst im Cockpit.
© Archiv Ursula Hänle
Und Ursula Hänle? Sie gründete ihr eigenes Unternehmen und stellte ein eigenes Segelflugzeug her, den Salto. Sie ist bis heute die einzige Frau, die ein Segelflugzeug konstruierte und in Serie produzierte. Ursula und Eugen Hänle waren, wie man heute sagen würde, ein echtes Power-Couple.