In der „STERN STUNDE“ spricht Chefredakteur Gregor Peter Schmitz mit Jagoda Marinić und Micky Beisenherz darüber, wie Deutschland wieder optimistischer werden könnte.
„Deutschland hat bessere Tage gesehen“, so kann man erst einmal den Ton für den Abend setzen. Gregor Peter Schmitz, Chefredakteur des stern, hat sich die Schriftstellerin („Sanfte Radikalität“) und Podcasterin Jagoda Marinić und den Fernsehmoderator und Podcaster Micky Beisenherz zum Talk eingeladen.
Der Abend läuft unter dem Veranstaltungstitel „Deutschland im Herbst“. Das muss man natürlich als unverhohlene Anspielung an den Deutschen Herbst 1977 verstehen. Also an die Zeit, als die RAF mordend durchs Land zog und die noch junge Bundesrepublik vor nicht gekannte, terroristische Herausforderungen aus dem Inneren stellte. Über Analogien lässt sich freilich streiten, und trotz des ersten AfD-Landtagswahlsiegs, der VW-Autodeutschland-Wohlstandsdämmerung, den islamistischen Attentaten und der wiedereingeführten Grenzkontrollen darf man zunächst zumindest ein Fragezeichen daran setzen, ob die Deutschen sich wieder metaphorisch in die Stimmung der 70er Jahre zurückgeschossen fühlen.
Die Stimmung in Deutschland ist so schlecht wie lange nicht
Aber über Existenzielles zu diskutieren, da gibt es natürlich einiges, gar keine Frage.
Gerade erst hat die Konrad-Adenauer-Stiftung eine Studie veröffentlicht, die das politische Klima im Herbst 2023 untersucht hat. Die Autoren kommen zum Schluss, dass die Menschen von „einer tiefgreifenden Verunsicherung und Unzufriedenheit geprägt“ seien, es dominiere der Pessimismus und das Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit politischer Institutionen sei erodiert. Die Befunde dürften sich auch auf den diesjährigen Herbst übertragen lassen.
Stern Stunde Artikel mit Video 18.27
In Hamburg suchen die Diskutanten dementsprechend an diesem Herbstabend Antworten auf die Fragen: Wie konnte es so weit kommen, und wie kommen wir da wieder raus?
In Deutschland gibt es keine Lösungslust
Jagoda Marinić beklagt zunächst ganz grundsätzlich, dass es hierzulande keine Lösungsorientierung gebe. „Wir dürfen in Deutschland ganz selten Lösungslust erleben.“ Es brauche mehr Räume, in denen Menschen sich begegnen und mehr seien als die eine Rolle, die man in den sozialen Netzwerken annehme.
Auch Micky Beisenherz sieht die persönliche Begegnung als Wurzel für ein produktiveres Miteinander: „Ich glaube an den Menschen. Ich glaube, dass der Mensch in direkten Begegnungen deutlich durchlässiger ist, was Meinungen angeht, als in sozialen Netzwerken. Das, was uns wirklich fehlt, sind Vereinsheime, Volksfeste und von mir aus auch Kirchen.“ Die analoge Begegnung würde viele Probleme, die wir gerade haben, lösen.
Viele Probleme seien in der Debatte aber auch gar nicht Thema, gibt Marinić zu bedenken. Einzelne Themen wie die Asyldebatte überstrahlten andere. Sie vermisse, dass sich auch mal Ziele seitens der Politik gesetzt würden. Wo wolle man bei einem identifizierten Problem eigentlich hin? „Wenn man immer nur alles schlecht redet, wird man fallen.“ Im Ausland, zum Beispiel in Kroatien, wo sie familiäre Wurzeln hat, sage man, „ihr seid immer noch Deutschland“. Das stehe im Kontrast dazu, dass hier alle denken, „es geht gar nichts“.
Warum hat die Ampel so einen schlechten Ruf?
Aber woran liegt es, dass die Deutschen die Situation so wahrnehmen, wie sie sie wahrnehmen? Wie konnte es zum Beispiel passieren, dass niemand mehr die Ampel will, will Gregor Peter Schmitz wissen.
„Unsere Aufmerksamkeitsspanne konzentriert sich ja immer nur auf das, was zuletzt passiert ist“, so Micky Beisenherz. Die Erfolge der Ampel, wie das Management im ersten Krisenjahr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, seien vergessen. Stattdessen habe nun jeder Teil der Ampel, von der FDP bis zu den Grünen, seinen Anteil daran, dass es nicht gut laufe.
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War es also ein Fehler von Scholz, dass er dachte, er könne so weitermachen wie Merkel, ohne sie aber zu sein, fragt Schmitz.
„Die Unsichtbarkeit des Kanzlers in einer so schwierigen Zeit, in der wir nicht mehr unter Valium stehen, sondern mitten in der Hysterie, ist schon sehr traurig“, sagt Marinić. Olaf Scholz glaube, so Beisenherz, er könne 2021 noch einmal wiederholen, aber das sei kaum vorstellbar. Was sollte Merz tun, damit die CDU die Wahl im kommenden Jahr doch nicht gewinnt? „Ich weiß nicht, was Scholz glaubt, was Merz tun wird. Glyphosat aus seinem Privatjet über Sylt sprühen?“, so Beisenherz. Friedrich Merz habe zwar verheerende Popularitätswerte, aber die CDU werde gut abschneiden, trotz Merz, ist sich der Podcast-Host und stern-Kolumnist sicher.
Das Imageproblem des Friedrich Merz
Das Imageproblem des Union-Kanzlerkandidaten sei aber nicht von der Hand zu weisen. Gerade bei Frauen käme er sehr schlecht an, wirft Gregor Peter Schmitz ein.
„Er hat eine merkwürdige Art, für das Gestern zu stehen. Für Frauen war das Gestern nicht unbedingt besser. Das ist eine Zeit, da hat Merz selber gegen die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe gestimmt“, so Marinić. Da stehe nun einer, der den Kampf der Frauen in der Vergangenheit nicht respektiert. „Es wird ein Backlash befürchtet, dass Frauen Rechte genommen werden.“
Auch die AfD ist natürlich ein Thema an diesem Abend. Ob es ein Fehler war, die frühere AfD, als sie noch die Partei der Wirtschaftsprofessoren und der Euro-Politik war, auszugrenzen, fragt Schmitz.
„Ich fürchte, und das gefällt uns nicht, weil das unsere eigene Machtlosigkeit bestätigen würde, dass das, was Merkel und andere Parteien damals gemacht haben, sehr wenig Einfluss hatte. Denn die Mobilisierung von Menschen zu Parteien, die Anti-Demokratische Bestrebungen haben, passiert über Trollfabriken, autoritäre Länder, die diese Achsen in Europa stärken wollen“, sagt Marinić.
Ob Medien denn auch zur aktuellen Polarisierung beigetragen hätten, will stern-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz wissen und erinnert an einen stern-Titelbild vor einigen Monaten. Da hatte das Magazin nach dem Nazi-Lied-Eklat auf Sylt von „Champagner-Nazis“ gesprochen.
Ja, Medien würden zur Polarisierung beitragen, so Beisenherz. „Wenn Du bei Sylt den Regler auf zehn drehst, dann kannst Du natürlich bei Mannheim nicht den Regler auf drei lassen und sagen, dass man jetzt sachlich bleiben muss. Man muss insgesamt alles sachlicher betrachten.“
Was muss passieren, damit wir alle wieder optimistischer werden?
Und was muss passieren, damit wir alle ungeachtet der German Angst in ein, zwei Jahren optimistischer dastehen, fragt Gregor Peter Schmitz zum Abschluss.
„Als Grundmuster würde ich sagen, Optimismus fördert Optimismus. Wenn wir uns nicht ganz so runterziehen lassen, auch vom CDU-Sprech, dann hilft das. Es hilft, wenn man als einzelner schon mal in den Tag startet und sagt: Ach komm, so schlecht ist das doch gar nicht“, so Beisenherz.
Und Marinić schließt: „Ich würde als Erstes das Beschweren verbieten. Wirklich im Alltag mal sagen, verbiete Dir selbst zwei Monate lang, Dich über irgendetwas zu beschweren. Weil das ist so ein großer Teil unserer Kultur und damit reden wir uns alles schlecht.“ Wir müssten nach dem Komma anfangen, positiv zu denken.