Seltener Auftritt: Angela Merkel wünscht Friedrich Merz „alles Gute“ für seine Kanzlerkandidatur. Differenzen wie die Flüchtlingspolitik werden weggeschwiegen.
Es ist 20.09 Uhr am Mittwochabend, als Angela Merkel nochmal ein bisschen Geschichte schreibt. Fast drei Jahre nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft spricht sie zum ersten Mal wieder zur CDU. Merkel ist zuletzt sehr selten öffentlich aufgetreten, nahm für sich in Anspruch, als Bundeskanzlerin a.D. nur noch „Wohlfühltermine“ wahrnehmen zu dürfen. Eine Veranstaltung der Partei, an deren Spitze sie 18 Jahre lang gestanden hatte, war da seit 2021 nicht dabei.
Es wird an diesem Abend in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften noch weitere knapp drei Minuten dauern, bis die frühere Parteivorsitzende vor rund 200 Gästen jene Worte sagt, die von der Veranstaltung politisch in Erinnerung bleiben werden. Es sind keine Worte der Versöhnung zwischen Merkel und Merz, die würde eh keiner glauben. Aber doch ein paar Sätze, auf die der heutige Parteichef vor nicht allzu langer Zeit kaum hätte hoffen dürfen. Die CDU zelebriert Harmonie vor dem bevorstehenden Wahlkampf – so ist diese Partei, wenn es um die Macht geht.
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Die Eintracht der einstigen Widersacher
Um die Bedeutung der Worte, die später fallen, zu verstehen, muss man die Vorgeschichte dieses Abends kennen. Merz und Merkel, das ist eines der legendärsten Zerwürfnisse der deutschen Politik, das macht diese Veranstaltung so besonders. Als Jungpolitiker am Ende der Ära von Helmut Kohl waren Merz und Merkel durchaus ähnlich in ihren politischen Ansichten, aber auch in ihrem politischen Ehrgeiz. Man teilte sich Ämter auf, doch die zwischenzeitliche Zweckbeziehung zerbrach, als die Parteivorsitzende Merkel nach der Bundestagswahl 2002 Merz auch den Fraktionsvorsitz entriss. Er gab die Politik alsbald auf, sie regierte 16 Jahre, an deren Ende Merz wieder auftauchte, Merkels Regierung einmal als „grottenschlecht“ bezeichnete und nach Merkels Abgang und erst im dritten Anlauf den Parteivorsitz übernahm und schließlich vor wenigen Tagen Kanzlerkandidat wurde.
Eine lange geplante nachträgliche Feier aus Anlass von Merkels 70. Geburtstag bietet nun die Gelegenheit, Gemeinsamkeit im Sinne der CDU zu demonstrieren. Merz kann das nicht schaden, um Ende 2025 vielleicht das ersehnte Amt des Bundeskanzlers antreten zu können, wenn er schon so alt sein wird wie Merkel heute, die ihr politisches Leben schon hinter sich hat. Und Merkel kann mal wieder ein wenig Verbundenheit mit ihrer Partei demonstrieren. Merkel weiß ja, wie viel sie der CDU zu verdanken hat. Und umgekehrt.
Die Bewertung von Merkels Politik überlässt Merz den Historikern
„Liebe Angela Merkel“, sagt Merz zu Beginn der Veranstaltung. Er verwendet diese Anrede später noch weitere achtmal, wobei er den Nachnamen weglässt. Merz nennt Merkel eine Persönlichkeit, „die dieses Land geprägt hat“. Und er sagt, dass man sich an diesem Abend Zeit nehmen wolle für Gespräche, „auch über Dinge, die uns gelungen sind, und Dinge, die uns weniger gelungen sind“. Konkreter wird Merz nicht, ohnehin drückt er sich um einzelne Bewertungen der Ära Merkel elegant herum. Mit einem Hannah Arendt-Zitat verweist er darauf, dass den Historikern das letzte Wort vorbehalten sei, was die Politik richtig und was falsch gemacht habe.
Nur einmal mag man einen Anflug von Distanz erahnen, als Merz Merkel attestiert, sie habe in der Euro-und der Corona-Krise Europa durch starke Führung zusammengehalten, er aber die Flüchtlingskrise in dieser Aufzählung nicht erwähnt. Über Jahre hatte Merkel Zurückweisungen an den Grenzen, wie sie Merz dieser Tage heftig fordert, strikt abgelehnt und damit die Union von CDU und CSU an den Rand des Bruchs geführt. Den flüchtlingspolitischen Merz von heute hätte die Kanzlerin Merkel niemals gewähren lassen. Hätte man Gelegenheit, Merkel zu fragen, wie sie die harte Gangart der CDU heute sieht, würde sie – wie sie es schon früher gerne getan hat – um des lieben Friedens Willen wohl mit einem gerafften Bibel-Zitat ausweichen: „Alles hat seine Zeit.“
Merkels Partygäste: Ein Hirnforscher, zwei Historiker
Traditionell lädt Merkel zu runden Geburtstagen Wissenschaftler für einen Vortrag ein. Zum 50. durfte die versammelte CDU-Prominenz 2004 dem Hirnforscher Wolf Singer lauschen, 2014 sprach der Historiker Jürgen Osterhammel, dessen damals jüngstes Buch von knapp 1000 Seiten Merkel gelesen hatte, als sie wochenlang einen beim Skilanglauf erlittenen Beckenbruch auskurieren musste. Diesmal redet der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, der zunächst von einer ersten Einladung bei Joachim Sauer vor vielen Jahren berichtet, aus deren Anlass dessen Gattin Angela Merkel „wunderbare Rouladen“ serviert habe. Eher unfreiwillige Aufmerksamkeit wurde Bredekamp sehr viel später als Begleiter Merkels in Florenz zuteil, wo er sie im Frühsommer 2022 durch die Museen führte, während der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyi die Ex-Kanzlerin aufforderte, sie solle besser in Butscha die Opfer eines russischen Massakers besichtigen, das sie durch ihre Politik mitzuverantworten habe.
Solcherlei Anfechtungen spielen natürlich an diesem Abend keine Rolle, auch wenn es im Vortrag des Professors durchaus politisch zugeht. Bredekamp streift gut 45 Minuten durch die Geschichte von Licht und Schatten der Aufklärung und zeigt auf Bildern, wie die politische Modernisierung sich in Gemälden, Fresken und Architektur wiederfand. Während Bredekamp über Horkheimer, Adorno, Habermas und Hobbes redet, inspiziert mancher Besucher das Publikum. Enge Vertraute sind gekommen, wie Volker Kauder, Thomas de Maizière oder Peter Altmaier. Es lauschen Menschen, die am Anfang von Merkels Kanzlerschaft eine Rolle spielten wie die Verlegerin Friede Springer oder der erste Regierungssprecher Ulrich Wilhelm. Man sieht aber auch ehemalige Minister wie Julia Klöckner und Jens Spahn, die am Ende der letzten Kanzlerschaft Merkels quasi übriggeblieben sind. Und natürlich Markus Söder und Hendrik Wüst, die ersten Opfer des Merzschen Machtbewusstseins, dem man sich jetzt in der Union zu fügen hat.
Friedrich Merz RTL direkt Interview 23.32
„Jeder weiß, dass wir Höhen und Tiefen hatten“
Und dann tritt Merkel auf das Podium. Sie dankt den Gästen fürs Kommen und scherzt darüber, dass manche nicht abgeschickte oder auch nicht angekommene Einladung viel Raum für Interpretationen bieten würde – offenbar eine bewusst unklare Anspielung auf Horst Seehofer, der zuvor in der Süddeutschen Zeitung berichtet hatte, keine Einladung bekommen zu haben. Liebhaber politischer Animositäten erinnert das sogleich an jene Nacht 2015, in der die Kanzlerin Merkel den CSU-Vorsitzenden Seehofer nicht erreichte, um mit ihm über die aus Ungarn und Österreich nach Deutschland drängenden Flüchtlinge zu sprechen. Bis heute ist nicht ganz klar, wer an dieser fehlgeschlagenen Kommunikation eigentlich Schuld hatte.
Die wichtigsten Sätze des Abends widmet Merkel indes dem CDU-Vorsitzenden. „Lieber Friedrich“, sagt sie nun auch, und die Spannung im Saal steigt in diesem Moment spürbar. „Jeder weiß, dass wir in unseren politischen Leben Höhen und Tiefen hatten.“ Nun sei er Kanzlerkandidat der Union, das bedeute „Ehre und Auftrag zugleich“, wie sie selber wisse. Und dann sagt sie: „Ich wünsche Dir für die nächsten Monate alles Gute und viel Erfolg“. Der Beifall, der folgt, klingt erleichtert und währt mehr als 20 Sekunden. Es ist das Signal, dass Merkel die Kandidatur von Merz in aller Höflichkeit unterstützt – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dicke Freunde müssen sie nicht mehr werden, aber zu demonstrativer Freundlichkeit reicht es.