Anne Hansen liebte das Großstadtleben. Bis sich von einem auf den anderen Tag durch eine Krankheit alles änderte. Die Begegnung mit einem Lamm in Nordfriesland rettete nicht nur das Leben der Autorin – auch das Schicksal des Tieres wurde neu geschrieben.
Dieser Artikel stammt aus dem stern-Archiv und wurde zuerst im April 2024 veröffentlicht.
In Nordfriesland leben fast so viele Schafe wie Menschen. 94.308 Schafe kommen auf rund 166.000 Einwohner. Die Schafe sind dort omnipräsent. Anne Hansen hatte trotzdem keinen Bezug zu ihnen, auch wenn sie in Husum groß geworden ist. Bis sie durch eine Krankheit ihren Lebensmittelpunkt von Berlin zurück nach Nordfriesland verlegt. Ein Jahr wollte die Autorin mit ihrem Mann in ihrer alten Heimat bleiben, bis sie wieder fit ist. Doch dann kam ein Schaf namens Lämmchen in ihr Leben. Die tierische Begegnung hat Anne Hansens Leben maßgeblich verändert. Heute geht es ihr wieder gut – und sie hat nach mehr als 20 Jahren Berlin endgültig den Rücken gekehrt, um in Husum mit Vogelbestimmungsbuch und Gummistiefelsammlung ein neues Leben zu beginnen. Hier erzählt sie ihre Geschichte:
„Ich bin eines Tages aufgewacht und habe sofort gemerkt: Irgendwas stimmt nicht. Mein Kopf fühlte sich an, als sei ich nachts in eine Schlägerei geraten. Ich war so Marmelade, dass ich direkt zum Arzt gegangen bin. Ich kam ins Krankenhaus und der Arzt dort hat mir eine Lumbalpunktion verpasst. Dabei wird quasi Gehirnflüssigkeit aus dem Rückenmark genommen. Er dachte, ich hätte vielleicht eine Hirnhautentzündung. Dummerweise ging diese Punktion komplett schief und hat meine Beschwerden noch mal potenziert.
Es ging wirklich gar nichts mehr – ich konnte nur noch liegen. Jeder Versuch, aufzustehen, rächte sich mit unmenschlichen Kopfschmerzen. Ich hatte einen Liquorunterdruck, sowas wie einen Unterdruck im Gehirn. Ja, und so habe ich wirklich ein paar Wochen in der Horizontalen verbracht. Plötzlich war meine Welt ganz klein geworden. Ich lag mitten in Berlin im Prenzlauer Berg in meiner Wohnung an einer vierspurigen Straße. Bis dahin waren mein Mann und ich typische Großstädter. Wir haben es geliebt, Essen zu gehen, mittendrin zu sein und die ganzen Angebote Berlins zu nutzen. Aber von einem auf den anderen Moment hatte ich nichts mehr von dieser Stadt. All das, was mir vorher so viel Spaß gemacht hat, fiel weg. Mich hat sogar plötzlich der Lärm gestört.
Also kam mir der Gedanke, dass ich genauso gut in Husum liegen könnte. Hier in der Heimat an der See wollte ich Körper und Geist einmal komplett durchpusten lassen. Also haben wir unsere Koffer in Berlin gepackt, unsere Wohnung untervermietet und uns auf nach Nordfriesland gemacht. Ein Kontrastprogramm: statt Motorengeräusche waren hier erstmal nur Wind und Stille.
Anne Hansen ist 1980 in Husum geboren und dort aufgewachsen. Sie arbeitet als freie Autorin für überregionale Medien und hat bereits mehrere Bücher geschrieben. Sie lebt mittlerweile mit ihrem Mann in Nordfriesland.
© Dominik Butzmann
Damit ich wieder auf die Beine komme, hat mein Mann mich jeden Tag zu einem Spaziergang gezwungen – egal bei welchem Wetter. Bei einem dieser Spaziergänge setzten wir uns am Deich ins Gras, weil ich eine Pause brauchte. Plötzlich kam eines der Lämmer aus der Schafherde auf uns zu und wir waren völlig von den Socken. Denn normalerweise sind Schafe keine Streicheltiere. Hier in Husum kann man regelmäßig Touristen und Touristinnen dabei beobachten, wie sie verzweifelt versuchen, ein Selfie mit den Schafen zu machen, diese aber Reißaus nehmen. Wir sind also richtig erstarrt, um das Lamm nicht zu erschrecken. Aber es war komplett furchtlos und hat uns von oben bis unten abgeschnuppert. Es wurde noch sonderbarer – das Lamm ließ sich sogar streicheln. Von diesem Moment an hatte ich eigentlich nur noch den Wunsch, das Lamm wiederzusehen. Es war meine Motivation, dass ich die Schafherde und unser Lämmchen treffe, um jeden Tag vom Sofa aufzustehen.
Von der Großstadtpflanze zur Schafkennerin
In kürzester Zeit wurde ich zur absoluten Schafkennerin und habe die ganze Herde kennengelernt. Was mich sehr beeindruckt hat, ist, dass die Schafe eine unglaublich intrinsische Motivation haben, mit einem Zeit zu verbringen. Mein Mann und ich haben ihnen nie Essen mitgenommen und auch unserem Lämmchen nie irgendwas zu fressen gegeben – sie wollten wirklich Zeit mit uns verbringen. Und mich hat überrascht, wie charakterlich unterschiedlich alle waren. Da gab es ‚Partyboy‘, der bis zum Nachmittag scheinbar verkatert auf dem Deich abhing, danach aufdrehte und nur Quatsch im Kopf hatte. Die anhängliche ‚Heidi Klum‘ – das schönste Lamm der ganzen Herde – oder auch den verschlagenen ‚Saul Junior‘, der Teil einer Lämmer-Gang war und selbst die Braven permanent anstachelte, wieder etwas auszufressen.
Die Lämmer sorgten nicht nur für jede Menge Unterhaltung (besser als jeder Kinofilm!), sondern ich habe durch sie tatsächlich einen anderen Blick auf das Leben bekommen. Ein kleines Erweckungserlebnis für mich war, dass Schafe wirklich im Moment leben. Wenn ich bei Lämmchen war, war er wirklich glücklich. Es war für ihn das Größte. Und wenn wir gegangen sind, hätte ich es natürlich gerne gehabt, dass er uns hinterherläuft, uns nachtrauert oder seinen Kopf durch die Pforte steckt. Doch: Er hat einfach weitergemacht und Gras gefressen. Es mag erstmal banal klingen, aber ich dachte: Mensch, genauso ist es richtig, dass man wirklich im Moment lebt und nicht irgendwie grübelt, was mal war oder was kommen kann.
Anne Hansen: „Und dann kam Lämmchen. Hinfallen, aufstehen, weitergrasen: Wie mir ein kleines Schaf ganz große Dinge beibrachte.“ Penguin Verlag, 240 Seiten, 13 Euro
© Penguin Verlag
Schafe geben Anne Hansen neue Perspektive auf ihre Krankheit
Das hat mir auch mit meiner Krankheit eine neue Perspektive gegeben. Vorher habe ich lange damit gehadert, dass ich überlegt habe, Mensch, wärst du noch in ein anderes Krankenhaus gegangen, vielleicht hättest du dann diese Untersuchung besser überstanden. Oder wenn ein anderer Arzt Dienst gehabt hätte. Also ich habe mich super lange mit diesen Gedanken aufgehalten, bis ich gemerkt habe, dass es eben so ist, wie es ist. Die Schafe – allen voran Lämmchen – haben mir dabei geholfen, nicht weiter zu grübeln, warum es ausgerechnet mich erwischt hat. Das Wasser am Deich beruhigt sowieso, und wenn man dabei noch ein Schaf an der Seite hat, das man kraulen kann, entschleunigt und beruhigt das total. Und mit jedem Tag, den ich Lämmchen besser kennenlernte, verliebte ich mich mehr in ihn. Es hätte also sehr schön sein können, wenn Lämmchen nicht ausgerechnet ein Bock gewesen wäre. Männlichen Lämmern droht normalerweise ein Ende beim Schlachter. Für mich wurde es mehr und mehr zur Horrorvorstellung, dass ausgerechnet unser Lämmchen auf der Schlachtbank enden sollte.
Lämmchen– neues Zuhause gesucht
Und so ging die Suche nach dem Bauern los, dem die Herde gehört. Der war allerdings von der Idee, dass mein Mann und ich das Lamm kaufen, alles andere als begeistert. Wir haben ihn oft angerufen und vorher sogar ein Skript gemacht, was wir sagen wollten. Erst hat er uns immer abgewimmelt. Wahrscheinlich hat er gedacht: Was sich diese Großstädter nur alles ausdenken! Doch wir blieben dran und irgendwann hatten wir ihn dann so weit, dass er sich mit uns und den Schafen am Deich getroffen hat. Aus strategischen Gründen hatten wir meine Mutter, die Plattdeutsch spricht, dabei. Um unsere Streetcredibility zu erhöhen – schließlich spricht der Bauer auch auf Platt. Und tatsächlich hat es funktioniert. Wahrscheinlich hat auch Lämmchen seinen Teil dazu beigetragen: Wir hatten uns am Deich im Kreis aufgestellt. Lämmchen stand in der Mitte und lief abwechselnd, als wüsste er, was für ein großer Moment da gerade stattfand, von mir zu meinem Mann, zu meiner Mutter und zum Bauern, und wollte jedes Mal gekrault werden. Da war, glaube ich, auch für den Bauern offensichtlich: Dieses Schaf kann nicht zum Schlachter kommen.
Wir dachten zu dieser Zeit: Jetzt hat es ein Happy End gegeben, wir können dieses Schaf kaufen. Vorab hatte ich nämlich auch schon recherchiert, wo er hinkonnte. Doch der Schutzhof, der mir bereits zugesagt hatte, sagte mir dann plötzlich ab und ich musste lernen, dass es fast unmöglich ist, irgendwo ein männliches Schaf unterzubringen. Niemand will einen männlichen Schafbock – auch keinen kastrierten. Ich telefonierte mich vergeblich durch alle Ställe und Koppeln Nordfrieslands. Es heißt eben, dass Böcke immer irgendwann wild und aggressiv werden – ob kastriert oder nicht. Doch am Ende gab es wirklich noch ein Happy End – für mich und für Lämmchen: Er durfte dort bleiben, wo er aufgewachsen ist, und ist jetzt wie ein Italiener, der mit 40 noch zu Hause wohnt – übrigens immer noch so tiefenentspannt wie eh und je. Und auch ich wurde quasi gerettet: Ich habe durch ihn nicht nur gelernt, welche Heilkraft Tiere haben und wie man besser durch Krisen kommt, sondern dass das Glück oft im Kleinen steckt. In meinem Fall: am Deich sitzen, aufs Meer blicken und ein Schaf streicheln.“
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