AfD und BSW dürften auch bei der dritten Landtagswahl im September die größten Gewinner sein. Danach sollte jeder mal seine Reflexe überprüfen.
Es ist eine ganze Weile her, die Söhne waren noch klein und überaus niedlich, da ging ich mit ihnen gelegentlich allein auf Reisen, nur wir drei, ohne ihre Mutter, die sich noch einmal zum Studium entschlossen hatte. Auch wenn die Kinder bestenfalls sporadisch meinen Anweisungen folgten: Sie hinterfragten mich nicht grundsätzlich, so wie ich es mit mir selbst tue, sondern vertrauten dem, was ich so tat. Es war ein Gefühl, das ich, wie so manches aus dieser Zeit, schmerzlich vermisse.
Einmal verbrachten wir die Herbstferien in Buckow am Schermützelsee, mit E und nicht mit A, also genau dort, wo Bertolt Brecht mit Helene Weigel (und gewiss noch anderen Frauen) mehr oder minder elegisch die Sommer verbrachte. Wir fuhren mit den Rädern um den See herum oder mit dem Kutter darüber. Wir fütterten die Schwäne mit Eiswaffeln und aßen Zuckerwatte im Wanderzirkus. Wir kletterten auf Hochstände und ließen das Springkraut springen.
Ach, wie schön: Der Schermützelsee (mit E, nicht mit A) mit Buckow
© Patrick Pleul
Alles war sehr hübsch in der sogenannten Märkischen Schweiz, wobei mir wieder auffiel, dass wir Deutschen, wenn wir eine Gegend in Deutschland besonders schön finden, sie nach anderen Ländereien zu benennen pflegen. Deshalb gibt es auch in Sachsen eine Schweiz, während in der Südpfalz und bei uns daheim in Thüringen angebliche Toskanas hügeln. Aber dies nur nebenbei.
Eines Tages fuhren wir hinüber nach Neuhardenberg, aus dem die DDR vergeblich versucht hatte, ein realsozialistisches Marxwalde zu formen, und besichtigten Schloss nebst Schinkel-Kirche, in der, in einem kleinen Altar, ein rot illuminiertes Herz ausgestellt ist. Meine Söhne starrten das mumifizierte Organ halb erschrocken, halb fasziniert an, und ich, der mal wieder nur eine Achtelahnung hatte, schaute gleich in meinem iPhone 3GS bei Wikipedia nach. Damals war das noch eine verrückte Sache.
Ich las: Das Herz schlug in Karl August Fürst von Hardenberg, also jenem Mann, der als Staatskanzler Preußen modernisiert hatte, einschließlich Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit und Judenemanzipation, und der, auch wenn sie nie in Kraft trat, für sein Land eine Verfassung geschrieben hatte. Ein progressiver Geist, ein Großreformator – und dazu noch mit vergleichsweise wenig nationalistischem Pathos.
Umso absurder wirkte das Bestattungsarrangement an dem Ort, den der preußische König Friedrich Wilhelm III. Hardenberg übereignet hatte. Ausgerechnet ein gewachstes und mit Hanf abgebundenes Herz, von dem die Legende barbarossamäßig besagt, dass es immer noch schlagen soll, steht für das liberale und aufgeklärte Preußen, das heute in seinen Rudimenten unter dem Namen seines einstigen Kurfürstentums firmiert: Brandenburg.
Es ist ein eigenartig konstruiertes Gebilde mit einer historisch bedingten Unwucht. Das Erbe des Wilhelminismus mit all dem Grauen, das daraus kroch, findet sich vor allem im deutlich bevölkerungsreicheren Berlin, das von einem brandenburgischen Kokon aus Wäldern, Wasser und ganz viel märkischem Sand umschlossen wird.
Dabei, eigentlich sind es zwei Kokons. Der kleinere Teil des Landes ist das, was man, falls man schlechte Kalauer bevorzugt, als Speckgürtel bezeichnen würde. Ein paar hunderttausend Brandenburger dürften Arbeitsberliner sein. Die meisten wohnen in Potsdam, dem inoffiziellen 13. Stadtbezirk, der inzwischen ähnlich durchgentrifiziert ist wie Friedrichshain, nur eben sans souci. Die hauptstädtische Wohnungsnot ist derart groß, dass Hauptstädter sogar in Königs Wusterhausen einfallen.
„Ich fühl‘ mich so Brandenburg“ – wo die AfD Aufschwung erhält
Der größere Rest Brandenburgs hingegen scheint langsam auszusterben, und das nicht nur in den Dörfern. Selbst Cottbus oder Frankfurt an der Oder haben mehr als ein Drittel ihrer Einwohner verloren. Ja, es gibt die Stahlindustrie und neuerdings auch Tesla. Doch die Landschaft dazwischen wirkt oft wie eine mit alten LPGs und verlassenen Industrieanlagen gesprenkelte Ödnis.
„Ich fühl‘ mich heut‘ so leer. Ich fühl‘ mich Brandenburg“, sang Rainald Grebe in vernichtender Präzision. „Und“, um eine Zeile aus seiner Thüringen-Ode zu klauen, „der nächste Konsum ist so weit“.
Das, natürlich nur unter anderem, hat Folgen. Im Berliner Vorort Potsdam reichte es im Juni für die Grünen zur Europawahl mit 15,5 Prozent für Platz 1, knapp gefolgt von SPD, CDU, AfD und BSW. In Cottbus wiederum gewann die AfD mit 29,2 Prozent, die Grünen landeten bei 4,5 Prozent – und das BSW bei 15,6 Prozent.
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Und in Neuhardenberg, wo das Herz des Fürsten liegt und die Hälfte der etwa 2000 Wahlberechtigten abstimmte? Die AfD kam auf 43,4 Prozent und das BSW auf 14,7 Prozent, während die Grünen kaum noch messbar waren.
Jene, die ihre Weltsicht besser sortiert haben als ich, würden wohl jetzt schreiben: eine solide Mehrheit aus Faschisten und Putinisten. Nun ja. Ich will nicht den Rechtsextremismus der AfD negieren oder den Brutalpopulismus des BSW relativieren, aber ich behaupte in Scholzschem Stoizismus, dass mir eine solche Beschreibung des gemeinen Neuhardenbergers zu unterkomplex wäre.
Natürlich kenne ich diese Menschen nicht. Aber ich kenne Menschen. Sie sind keine eindimensionalen Wesen, sogar dann, wenn sie im Beitrittsgebiet leben. In Übrigen ist Brandenburg genauso wenig Brandenburg wie – ja ich wiederhole mich – Ostdeutschland einfach nur Ostdeutschland ist, oder die Märkische Schweiz die Sächsische Schweiz, um von der echten Schweiz zu schweigen.
Wenn also am Sonntagabend die Landtagswahlergebnisse aus dem einstigen preußischen Kernland einlaufen und die AfD insgesamt oder doch zumindest in den allermeisten Gegenden auf Platz 1 liegt, während das BSW zweistellig wird: Dann wäre es hilfreich, wenn ausnahmsweise nicht reflexhaft polemisiert, sondern erst einmal ganz tief durchgeatmet und danach differenziert würde: zwischen Stadt und Land, zwischen Potsdam und Eberswalde oder, auch das, zwischen AfD-Wählern und Extremisten oder BSW-Anhängern und Stalinisten.
Pauschalurteile bewirken oft nur das Gegenteil dessen, was sie womöglich intendieren. Und vielleicht denkt ja auch jemand an das Gedicht, dass Brecht in einem Sommer, es war jener von 1953, am Schermützelsee über die damalige Propaganda der totalitär Herrschenden schrieb.
Seine ganz spezielle Buckower Elegie namens „Die Lösung“ endet bekanntlich so: „Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?“
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