Philip Meade gibt Workshops für Kinderrechte. Manche wagen es dort zum ersten Mal, von Rechtsverletzungen zu erzählen.
Wie viele Kinder und Jugendliche, die bei Ihren Workshops mitmachen, wissen, dass es Kinderrechte gibt?
Das hat sich zum Glück in den letzten Jahren verändert. Ich habe vor rund 20 Jahren mit Kinderrechte-Workshops an Schulen und in Jugendfreizeiteinrichtungen begonnen. Da waren es höchstens zehn Prozent, während heutzutage bei meinen Workshops in Berlin immerhin knapp die Hälfte der Schülerinnen und Schüler von den Kinderrechten gehört haben. Aber es gibt regional noch große Unterschiede – abhängig davon, wie die Kinderrechte im Curriculum des jeweiligen Bundeslandes eingebettet sind, ob die Lehrkräfte sie für wichtig erachten und ob Kinderrechte bereits zu Hause thematisiert wurden.
Die UN-Kinderrechtskonvention hat 54 Artikel. Das ist nicht nur für Kinder unübersichtlich. Gibt es so etwas wie die wichtigsten Kinderrechte?
Das Widersprüchliche an den Kinderrechten der Vereinten Nationen ist, dass sie von Erwachsenen für Kinder geschrieben wurden, obwohl sie den Kindern auch Beteiligungsrechte garantieren. Eigentlich hätte es also einen gemeinsamen Entwicklungsprozess geben sollen, dann wären sie bestimmt nicht nur in dieser juristischen Fachsprache aufgeschrieben worden. Aber die 54 Artikel lassen sich grob in drei Bereiche aufteilen, die man sich gut merken kann: Schutzrechte, Versorgungsrechte und Beteiligungsrechte. Manche Organisationen versuchen, sie auf „10 Kinderrechte“ herunterzubrechen, mit je unterschiedlichen Schwerpunkten. Es widerspräche allerdings dem Prinzip der Kinderrechte, sie in wichtig und weniger wichtig aufzuteilen. Sie sind alle wichtig und bedingen einander!
Kinderrechte in drei Stichworten – Schutz, Versorgung, Beteiligung
Schutz, Versorgung und Beteiligung – können Sie das kurz erklären?
Kinder – damit sind alle Menschen unter 18 Jahren gemeint – haben Anspruch auf Schutz vor körperlicher und psychischer Gewalt, Ausbeutung, Krieg und Diskriminierung. Sie haben Anspruch auf Versorgung mit gesunder Nahrung, Medikamenten und qualitativen Bildungseinrichtungen. Sie können sich informieren, ihre Meinung in allen sie berührenden Angelegenheiten kundtun und sich beteiligen. Bei Schulstreiks und Klimaprotesten besonders brisant: Sie dürfen sich frei mit anderen Kindern zusammenschließen und demonstrieren! Dieses Recht wiegt laut einiger Rechtsgutachten stellenweise schwerer als die Schulpflicht.
Wie vermitteln Sie Kindern und Jugendlichen in Ihren Workshops ihre Rechte?
Wir gehen immer von den konkreten Lebensrealitäten der Kinder aus. Das heißt, dass wir Situationen suchen, die sie vielleicht selber erlebt oder über Erzählungen und Medien mitbekommen haben, in denen Kinderrechte verletzt werden. Danach setzen wir vor allem spielerische und theaterpädagogische Methoden ein, um diese Situationen zu bearbeiten und alternative Lösungswege zu entwickeln. Es geht also nicht nur um reine Wissensvermittlung, sondern um die Frage: Können Kinder ihre Rechte so einsetzen, dass diese zu einer Verbesserung ihrer Lebensumstände führen?
Dabei fangen die Kinderrechte vor der eigenen Haustür an, oder schon im eigenen Haushalt, aber wir erarbeiten mit den Teilnehmenden auch, was Kinderrechte im globalen Kontext bedeuten. Wir zeigen Kurzfilme von Kindern in anderen Lebensrealitäten als die, die sie selber kennen – und dann sind die Kinder schnell solidarisch mit ihren Altersgenossen und Altersgenossinnen weltweit.
Wie reagieren die Kinder auf Ihre Workshops?
Nach jedem Workshop führen wir verschiedene Feedback-Methoden durch und nach einer größeren Projektphase evaluieren wir diese. Dabei kommen oft Rückmeldungen wie: „Ich habe heute mehr gelernt als an einem normalen Schultag – und es hat auch noch Spaß gemacht.“ Es gibt auch kritische Rückmeldungen, wenn die Erwachsenen zu viel geredet haben. Fast immer melden sie aber zurück, dass sie es super fanden, Kinderrechte endlich besser verstanden zu haben. Viele wollen sich danach auch für Kinderrechte einsetzen.
Die Kinderrechte-Workshops scheinen einiges in Bewegung zu bringen?
Ja! Nachdem sie zu uns Vertrauen aufgebaut haben, berichten Teilnehmende manchmal zum ersten Mal von einem schweren Übergriff, von häuslicher Gewalt oder einer anderen, persönlich erlebten Kinderrechtsverletzung. Manchmal führt dies dazu, dass wir im Nachhinein die Schulsozialarbeit oder – wenn der Übergriff von einer Lehrkraft ausging – auch die Schulleitung einbeziehen.
Grundsätzlich versuchen wir immer, das Umfeld mit ins Boot zu holen: die Eltern, die Lehrpersonen, die Lokalpolitik. Die Teilnehmenden erleben dann, dass ihre Forderungen teilweise zu etwas führen und nicht nur als fromme Wünsche und illusorische Ideen in der Schublade landen.
Wie können Eltern Kinderrechte vermitteln und ab welchem Alter ist das sinnvoll?
Es gibt keine Altersgrenze, um Kinderrechte zu vermitteln. Solange Kinder noch nicht sprechen können, sollten Kinderrechte durch Mimik, Gestik und Handlung vermittelt werden, etwa bei der respektvollen Behandlung während Essenssituationen. Eltern sollten zum Beispiel die Flasche oder den Löffel nicht in den Mund schieben, wenn sie merken, dass das Kind den Kopf wegdreht. Jedes Kind hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung.
Wenn Kinder älter werden, kann eine einfache Sprache verwendet werden, um Kinderrechte zu vermitteln. Es gibt inzwischen gute Wimmelbilder, Comics und Bilderbücher von Kinderrechtsorganisationen, die dabei helfen, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen.
Weltkinder Tag Photo-Award 7:08 Spätestens, wenn Kinder sieben oder acht Jahre alt sind, können Erwachsene mit ihnen dann darüber sprechen, dass laut Völkergemeinschaft alle Menschen – und damit auch alle Kinder – das Recht auf bestimmte Mindeststandards für ein würdiges Leben haben sollten. Kindernachrichtensendungen wie „Logo“ bieten hierfür eine gute Diskussionsgrundlage und zeigen auf, dass wir uns immer wieder neu für Kinderrechte einsetzen müssen.
Wie kinderfreundlich finden Sie unsere Gesellschaft?
Leider sind die meisten westlichen Gesellschaften durchaus kinderfeindlich. Das haben wir etwa während der Coronapandemie gesehen, wir erleben es heute beim vernachlässigten Bildungssystem und werden es beim Klimakollaps noch deutlich zu spüren bekommen. Kinder und ihre Interessen werden in fast jeder Hinsicht gering geschätzt, missachtet, entwürdigt, stigmatisiert, vereinnahmt oder fremdbestimmt.
Heute passiert das natürlich nicht mehr so häufig durch direkte, physische Gewalt, sondern eher subtil, etwa anhand von Abwertung, Beschämung oder Vergleichen.
Leider fällt dieses gesellschaftliche Strukturprinzip den Erwachsenen nicht mehr wirklich auf, weil wir in der Kindheit dazu konditioniert wurden, Diskriminierungs- und ungleiche Machtverhältnisse als normal zu betrachten. Wenn ich mit Erwachsenen arbeite, beginne ich daher meine Workshops häufig mit biografischen Übungen, die in die eigene Kindheit zurückführen.