Holger Schmieding: Spitzen-Ökonom: „Deutschland ist die große Enttäuschung des Jahres“

Die deutsche Konjunktur lahmt. Was sind die Gründe? Wirtschaftswissenschaftler Holger Schmieding analysiert die Lage – und hofft auf eine entscheidende politische Reform.

Disclaimer Capital

Herr Schmieding, im vergangenen Herbst sagten Sie eine Belebung der deutschen Konjunktur für den Sommer 2024 voraus. Davon ist nun wenig zu spüren. Woran lag’s?
Die deutsche Konjunktur ist tatsächlich die große Enttäuschung des Jahres, vor allem auch im Vergleich mit anderen westlichen Industriestaaten. Das liegt unter anderem daran, dass der Welthandel nicht in Gang kommt – hier hatte ich einen leichten Wiedereinstieg erwartet. Stattdessen ist Chinas Schwäche ausgeprägter als gedacht: Das Land tut weniger für die Binnennachfrage und versucht aggressiv, im Ausland Marktanteile zu gewinnen, indem es seine Überproduktion zu Billigpreisen auf dem Weltmarkt verkauft. Dazu kommt, dass wir weiterhin eine hohe politische Unsicherheit haben, insbesondere in der Energiepolitik – das trägt zu einer Zurückhaltung der Unternehmen bei Investitionen bei.

Dabei sind die Energiepreise doch inzwischen wieder auf Normalniveau angekommen, oder?
Ja, die Energiepreise haben sich beruhigt, die Verbraucher sehen gegenüber dem Vorjahr leicht fallende Preise. Insgesamt ist die Einkommenslage der Verbraucher mindestens so gut wie erwartet, die realen Einkommen steigen. Doch die gesamtwirtschaftlichen Sorgen sind größer als gedacht, damit ist die Ausgabenneigung der Verbraucher geringer als gedacht. Ist die Nachrichtenlage nicht gut, geben auch die Verbraucher weniger von ihrem Geld aus. Und dann gibt es noch einen Faktor, den ich vor einem Jahr unterschätzt habe.

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Und zwar?
Der Schock über den raschen Anstieg der Energiepreise und die Verunsicherung wegen des Heizungsgesetzes sitzen tiefer als gedacht. Das heißt, sie prägen das Verhalten noch, obwohl die Themen eigentlich zu einem erheblichen Teil abgearbeitet sind und etwa das Heizungsgesetz so nie gekommen ist. Schock, Ärger und Verunsicherung sind aber geblieben.

Was ist mit den strukturellen Problemen Deutschlands, welche Rolle spielen die in der aktuellen Lage?
Wir haben tatsächlich erhebliche strukturellen Probleme. Aber Gegenfrage: Wer hat das nicht? Im Vergleich zu anderen Ländern können wir nicht feststellen, dass dramatisch zurückgefallen wären. Ein kleiner Teil der strukturellen Probleme ist auch einfach Ausdruck unseres bisherigen Erfolges. Wir haben einen der besten Arbeitsmärkte der westlichen Welt, eine hohe Beschäftigungsquote und weiter steigende Beschäftigung. Und leider führt das auch zu einem Facharbeitermangel, unser Arbeitsmarkt ist leer gefegt. Das bringt ganz neue Probleme mit sich, zum Beispiel mangelt es im öffentlichen Dienst an Arbeitskräften. So verlängert sich die Bearbeitungszeit von Anträgen und das wird selbst zu einem Wachstumshemmnis für die Unternehmen.

Über die Wirtschaftspolitik der Ampel-Regierung gibt es viele Klagen. Können Sie etwas Positives finden?
Dass das Lieferkettenschutzgesetz auf das europäische Mindestniveau heruntergesetzt wird, ist eine gute Nachricht. Das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz ist nicht ganz unkompliziert, geht aber in die richtige Richtung. Und auch die jüngste Wachstumsinitiative der Regierung hat einiges Positives in Gang gesetzt. Aber bis das wirkt, wird es dauern. Strukturelle Veränderungen merken Sie erst nach einigen Jahren. Wenn der Auftrag aus China nicht mehr kommt, merken Sie das sofort. Diese Regierung ist in vielen Bereichen auf den richtigen Kurs eingeschwenkt, aber sie hat das auch nicht gut kommuniziert.

Wie ließe sich das ändern?
Ich würde mir wünschen, dass einige Leute etwas öfter die Klappe halten würden; wenn wir weniger davon mitbekämen, wie im politischen Prozess die Entscheidungen getroffen werden, und mehr davon, was der Inhalt einer Entscheidung ist. In der Debatte nimmt der Streit auf dem Weg zu einem Ergebnis mehr Raum ein als das Ergebnis selbst. Und dann werden die Ergebnisse nicht gut genug präsentiert, es fehlt ein guter Kommunikator.

Bräuchte es eine Art neuen Agenda- oder Ruck-Moment, um das Land wachzurütteln?
Die Situation ist nicht mit der Zeit vor der Agenda vergleichbar, als Massenarbeitslosigkeit herrschte. Es gibt eine Vielzahl von strukturellen Problemen, von Überregulierung bis zu Arbeitskräftemangel. Und zu deren Lösung gibt es viele kleine Stellschrauben, nicht den einen großen Schalter, den man umlegen könnte. An vielen Stellschrauben dreht die Regierung jetzt, aber wegen der Schuldenbremse kann sie auch nicht das machen, was anderen Ländern offen steht – etwa einfach mehr Geld in den öffentlichen Dienst stecken oder die Unternehmenssteuern senken.

Für eine Reform der Schuldenbremse finden Sie aber keine politischen Mehrheiten in diesem Land.
Die wird es geben, in einem Jahr.

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Wirklich?
Damit können Sie mich zitieren. Ich würde viel darauf wetten, dass eine unionsgeführte Regierung – egal ob mit Grünen oder SPD – als erstes die Schuldenbremse modernisieren wird. Sie wird sie nicht abschaffen, aber mehr Spielraum für Investitionen kreieren, so wie das die große Mehrheit der Volkswirte fordert.

Und warum passiert das dann nicht früher? Die Zeit drängt doch.
Die CDU kann es heute schlecht machen, weil die FDP sonst mit dem Thema hausieren gehen würde. Und die FDP kann sich nicht bewegen, weil sonst ein bis zwei Prozentpunkte ihrer Wähler an die CDU verlieren würde – diejenigen Leute, die sich wirklich für die Schuldenbremse interessieren und davon ihre Wahlentscheidung abhängig machen. Nur die sind in diesem Wechselspiel von Union und FDP von Bedeutung. Aber deshalb kann im Moment keine dieser Parteien von der Forderung abrücken. Aber das wird sich nach der nächsten Bundestagswahl alles ändern.