Dass der Baustart der Intel-Chipfabrik verschoben wird, haben viele Magdeburger geahnt. Sie zweifeln, ob das Werk überhaupt kommt. Ihre Hoffnungen für die Stadt drohen zu zerfallen
Es ist ein sonniger Septembertag, an dem Magdeburg im Kollektiv seufzt. Scheinbar ewig haben sie hier die Luft angehalten und jetzt – da ist die Luft einfach raus. Chiphersteller Intel hat angekündigt, die geplante Megafabrik am Rande der Stadt vorerst auf Eis zu legen. Weder die 3000 neuen Jobs noch die neuen Straßen kommen – alles bleibt beim Alten. Dabei wurden schon Namen für die Region erfunden. Vom Hightech-Cluster war die Rede. Am Ende bleibt Magdeburg aber Magdeburg. Und die meisten Magdeburger zucken bei dieser Nachricht nur mit den Schultern.
Erst vor wenigen Tagen erhielt Intel die erste Baugenehmigung, nun will der US-Konzern den Baustart um zwei Jahre nach hinten verschieben oder – glauben viele Magdeburger, die man an diesem Tag trifft – das Projekt wohl ganz abblasen.
Auf der riesigen Brachfläche, auf der eigentlich eines Tages die Fabriken stehen sollen, sind schon Vorbereitungen getroffen: Die früheren Äcker sind planiert, ein Bauschild wirft große Schatten auf die asphaltierte Zufahrtsstraße. Auf der Baustelle des riesigen Strom-Umspannwerks, das extra für die neuen Intel-Fabriken gebaut wird, drehen auch an diesem Tag ein paar Bagger ihre Arme. Ein LKW manövriert sich durch die hoch aufgeschütteten Sandhaufen, auf den weiten Äckern rechts und links wuchert Unkraut. Es ist ziemlich friedlich hier: keine Menschenseele zu sehen, kein Wölkchen am Himmel, nur das Rauschen der nahen A14.
Man könnte meinen, diese Ruhe trügt; die Magdeburger müssten kochen vor Wut oder zumindest trauern um dieses Projekt, das in der ehemaligen Industriestadt für eine lang ersehnte Aufbruchsstimmung gesorgt hatte und an das nun kaum noch jemand glaubt. Die Menschen in der Fußgängerzone in Magdeburg sind vor allem enttäuscht und unsicher, wie es jetzt weitergeht. Bis Intel wieder mit den Fingern schnippt, hängt Magdeburg erstmal in der Schwebe.
Heimatverein Ottersleben über Intel-Aus sehr enttäuscht
Kurt Petzerling zieht die Rolladen hoch vom Vereinsheim des Heimatvereins Ottersleben. Der Stadtteil, an dessen Rand die Intel-Fabriken geplant sind, erinnert auch jetzt noch an das Dorf, das es zu DDR-Zeiten war. Nebenan die Metzgerei „Hans Wurst“, große Eichen und nur gelegentlich ein Auto, das über die kopfsteingepflasterte Straße rappelt. Jedes Jahr veranstalten sie hier ein Volksfest, zu dem in den vergangenen zwei Jahren gleich mehrere hochrangige Intel-Vertreter erschienen sind. Doch in diesem Jahr blieben sie fern.
Auf der Baustelle des Umspannwerks nahe dem Gelände der geplanten Intel-Fabriken bewegen sich die Bagger noch
© Capital
„Das spricht schon Bände, wenn man sich nicht mal mehr traut, zu den Bürgern zu gehen und ihre Fragen zu beantworten“, sagt Petzerling. Er ist gebürtiger Otterslebener und Vorsitzender des Heimatvereins. „Wenn dann so still und heimlich ein Rückzieher gemacht wird, ist die Enttäuschung schon sehr, sehr groß.“ In einem weinroten Hemd sitzt er an einem alten Holztisch, geschmückt von einer Kunsthortensie, hinter ihm die blau-weiß-grüne Vereinsflagge. „Das klingt ein bisschen drastisch, aber man fühlt sich verarscht“, sagt Petzerling. „Intel wurde hier der rote Teppich ausgerollt und sie haben sich gerne darauf bewegt. Nach außen hin haben sie nie Zweifel an dem Projekt geäußert.“
Überrascht ist Petzerling über die Verschiebung des Baustarts trotzdem nicht. Die Verzögerungen und die ausstehende Genehmigung der Europäischen Union (EU) für die fast 10 Mrd. Euro Fördergelder vom Bund haben ihn und viele andere in Magdeburg in den vergangenen Wochen skeptisch gestimmt.
Magdeburger von Verzögerung nicht überrascht
„War klar“, sagt ein Mitt-Fünfziger, den man am Nachmittag in der Fußgängerzone trifft. Die Arme hat er vor der Brust verschränkt. „Ich bin weder enttäuscht noch wütend, ich bin Realist.“ Auch in zwei Jahren rechnet er nicht mit dem Baustart.
Eine Magdeburgerin erzählt, dass bei ihrem Arbeitgeber schon ein eigenes Projekt und neue Stellen geschaffen worden seien, um Intel beim Bau zu unterstützen. Jetzt wisse man nicht, was mit den Fördergeldern passiere. Die Nachricht über die Verschiebung habe sie und ihre Kollegen schockiert, obwohl auch sie es nach den Medienberichten der vergangenen Wochen bereits geahnt hatten.
„Ich finde es schade, weil ich mir davon viel für die Region erhofft habe, für unseren Lebensstandard hier“, sagt eine andere Frau, die gerade ihren Einkauf auf dem Fahrrad nach Hause schiebt. „Magdeburg hat sich in letzter Zeit gemacht. Jetzt werden die Skeptiker wieder Oberwasser gewinnen.“
Denn natürlich hatten einige Vorbehalte, was so ein großes Unternehmen inklusive Verkehr, neuen Siedlungen und Straßen mit der Stadt machen würde. Und trotzdem sei Intel herzlich willkommen gewesen, sagt Petzerling vom Heimatverein. „Die Grundstimmung jetzt ist nicht Erleichterung, sondern eher Ernüchterung“, sagt er. „Resignation“ sei da. Schließlich hätte das Projekt Ostdeutschland und Deutschland insgesamt nach vorne gebracht. Schnell ist er bei der grundsätzlichen Frage: „Wohin geht es mit Deutschland eigentlich wirtschaftlich?“
Bürgermeisterin Borris glaubt an Baustart in zwei Jahren
In Magdeburg sind die Fragen aber erst mal viel konkreter: Wie soll es jetzt weitergehen mit den Straßen, die teilweise schon ausgebaut werden, mit Unternehmern, die sich nur wegen Intel auf den Wohnungssektor spezialisiert oder extra Stellen geschaffen haben? Was ist mit der kleinen Siedlung mitten auf den Äckern, wo die Menschen längst aus ihren Häusern ausziehen mussten und die nun eigentlich abgerissen werden sollen? Was soll in den nächsten zwei Jahren passieren und was, wenn alles umsonst war?
„Ich bin mir sicher, dass Intel perspektivisch zu uns kommen wird“, sagt die parteilose Magdeburger Oberbürgermeisterin Simone Borris am Dienstag. Das Grundstück sei in Deutschland so einzigartig, dass es für Intel auch in zwei Jahren noch attraktiv sei. „Ich kann nicht enttäuscht sein, weil es ja keine hundertprozentige Absage ist“, sagt Borris. „Dass Intel aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation und der wirtschaftlichen Gesamtlage in Deutschland Zeit braucht, finde ich nachvollziehbar.“ Sie sei nach wie vor optimistisch. Ähnlich hatte sich davor bereits Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff (CDU) geäußert.
Borris selbst hat am Montagabend von der Nachricht erfahren. Sie wurde nach Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Ministerpräsident Haseloff informiert, auch der Intel-interne Brief an die Mitarbeitenden hat sie erreicht. Für ihre Stadt erwartet sie dadurch keine finanziellen Schäden, schließlich soll am Ende alles das Land bezahlen. Die Frage sei eben, ob die Förderung durch das Land nun aufrecht erhalten werde.
So oder so hält sie die bereits angeschobenen Projekte aber nicht für „überflüssig“ und geht davon aus, dass die große Baumaßnahmen, wie zum Beispiel Wohnprojekte, in Magdeburg fortgesetzt werden. Wie es mit einzelnen Projektteilen konkret weitergeht, müssten aber Abstimmungen in den nächsten Monate zeigen. Unklar ist auch noch, was mit dem sogenannten High-Tech-Park passieren wird, auf dem sich Zulieferer von Intel ansiedeln sollten.
Unternehmer wollen Planungssicherheit
Die örtliche IHK findet die Nachricht „sehr bedauerlich“ und klammert sich an die Hoffnung, dass der Bau dann in zwei Jahren beginnt. Für direkt am Bau und Betrieb der Fabriken beteiligte Unternehmen sei Planungssicherheit wichtig. „Unabhängig davon dürfen wir jetzt nicht in Schockstarre verfallen, sondern die Rahmenbedingungen und die Attraktivität des Standortes für unsere ansässige Wirtschaft und Investoren weiter fördern und gestalten“, appellieren Klaus Olbricht und André Rummel von der IHK Magdeburg.
Eine Intel-Sprecherin sagt Capital, dass das Projekt zwar pausiert sei, man aber auch weiterhin eng mit den lokalen Partnern wie der Stadt, der Agentur für Arbeit und den Universitäten zusammenarbeiten wolle. „Die Dinge werden evaluiert und wir werden im Austausch mit unseren Parterinnen und Partnern versuchen, die potenziellen Auswirkungen so gering wie möglich zu halten“, so die Sprecherin. Die Zusammenarbeit sei von Anfang hervorragend gewesen und getragen von der besonderen Aufbruchsstimmung. Intel habe sogar extra ein Projekt-Team vor Ort geschaffen, das in einem Büro in der Innenstadt sitzen soll. Außer einem kleinen Aufkleber am Briefkasten und einer Nachbarin, bei der sich niemand vorgestellt hat, ist davon aber nicht viel zu sehen.
Die Aufbruchsstimmung ist jedenfalls erstmal der Verunsicherung gewichen, auch wenn Bürgermeisterin Borris ankündigt, die Stadt werde „jetzt nicht innehalten“. „Wir müssen versuchen, den Spirit trotzdem weiter aufrecht zu erhalten“, sagt sie. Sollte es hart auf hart kommen, hat die Stadt Magdeburg ein Vorkaufsrecht für das Land der Intel-Fabriken, auch wenn sich Borris zu einem Plan B nicht äußern will.
Beim Heimatverein sehen sie die Zukunft weniger rosig. „Das ist jetzt ein Abschied auf Raten“, sagt Petzerling. Ein klares Ja oder Nein wäre ihnen lieber. Vielleicht könne man sich in zwei Jahren ja doch freuen, wenn tatsächlich eine Fabrik da stehe – aber bis dahin bleiben die Otterslebener skeptisch.