Rechtsextreme nutzen geschickt die Macht von Tiktok, heißt es. Warum sind wir nur so fasziniert vom Erfolg des Bösen?
Halleluja, wir haben die erste Runde der Ost-Analysen hinter uns! Seit Monaten hört man einen Experten nach dem anderen wortreich erklären, was da bloß los ist. Offensichtlich konnte aber keine Expertise verhindern, dass in Thüringen ausgerechnet jener Landesverband die meisten Stimmen erhält, den der Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem beschreibt.
Schon an dieser Stelle werden viele mir vorwerfen, ich sei nicht neutral. Die Bürger hätten demokratisch gewählt. So ist unsere Zeit: Selbst das Zitieren des Verfassungsschutzes wird, wenn es um rechtsextreme Bewegungen geht, als linker Aktivismus beschimpft.
Gleiche Strategie, andere Sichtweise
Ich habe inzwischen auch an vielen Stellen den Eindruck, es fehlt an Neutralität, nur andersherum. Seit Jahren werden Anhänger von demokratischen und progressiven Bewegungen für ihre Aktivitäten als Gutmenschen verhöhnt. Wenn rechte Bewegungen jedoch die Strategien der Progressiven kopieren, werden sie befremdlich euphorisch für ebendiese Strategien glorifiziert.
Beispiel gefällig? Die Reaktionen auf die Erfolge der AfD bei Tiktok. Die Rechten hätten es drauf im Netz, heißt es jetzt. Dort hätten sie ihre Wahlen mitgewonnen, insbesondere bei der Jugend! Man vergleiche das bitte mit den Reaktionen, die Social-Media-Aktivitäten der Progressiven auslösen: „Wie lächerlich! Eure Posts auf Instagram und Twitter sind doch kein Engagement!“ So schimpften politische Beobachter seit Jahren, machten die progressiven Posts lächerlich und unterstellten Aktivisten, nicht wirklich politisch zu denken.
STERN PAID 36_24 Recherche Rechtsextreme AfD 9:46
Weshalb wird ein und dieselbe Sache, je nachdem, aus welcher Richtung sie kommt, so unterschiedlich bewertet? Rechte Kampagnen bilanziert man als genial, recherchiert auch nicht, ob nicht auch die Algorithmen von Tiktok sie bevorzugen könnten. Progressive hingegen werden so lange verhöhnt, bis sie ihren Mut verlieren, weil sie laut ihren Kritikern ja nur Gratismutige sein sollen. Dabei sind sie es, die sich Kommentare aller Trolle dieser Welt antun müssen. Rechtsaußen steht immer parat: Sendeanstalten werden mit orchestrierten Briefen bombardiert, wie nach dem Song über die Oma als Umweltsau. Es reicht erst, wenn der Intendant kniet. Aber von den Progressiven heißt es, sie betrieben Cancel Culture.
Vor Jahren sah ich eine Homestory über rechte Vordenker, die ich damals noch nicht kannte. Hochglanz im Bild und Faszination zwischen den Zeilen. Ich fragte den Autor, warum er ihnen bei deren geringer Reichweite eine Geschichte widme. Seine Antwort: Journalismus sei eben, über Neues zu berichten. Heute sind die rechten Namen, die von dieser Lust auf Neues profitiert haben, groß genug, sie brauchen klassische Medien nicht mehr.
Die Faszination der Medien
Wenn man über den Erfolg der westdeutschen Figuren wie Höcke im deutschen Osten reden will, muss man auch über die Faszination reden, die viele Wessis gegenüber diesen Figuren verspüren, eine Faszination an den Zerstörungswütigen. Nur verhält es sich wie mit der Büchse der Pandora: Das Übel lässt sich nicht mehr einfangen. Wir sehen die Rechten weltweit auf dem Vormarsch, doch gerade in Deutschland könnten wir klüger sein, weil andere diese Fehler vor uns gemacht haben. Wir könnten von anderen lernen, so blöd sind wir doch nicht.
Statt all der Experten, die erklären, wie es im Osten so weit gekommen ist, könnte man nach Ideen suchen, wie man Städter und Landbevölkerung einander näherbringen könnte. Wo sind die Lösungswütigen, wann kriegen wir sie zu hören und zu sehen? Oder wird es da heißen: Ah, noch so ein Gutmensch, das hatten wir doch jetzt 70 Jahre, wo ist da die News?