Politik: Die deutsche Regierung hängt am seidenen Faden

Die Ampelkoalition hat ihre Zukunft wohl hinter sich – und trotzdem noch ein bisschen was vor. Doch jedes Projekt könnte das letzte sein.

Richtig freundschaftlich geht man dieser Tage in der Ampel miteinander um. Äh, also fast. Die SPD kündigt eine „härtere Gangart“ an, die Grünen schrumpfen die Koalition zur „Übergangsregierung“, in der FDP wird die Legitimität der Koalition infrage gestellt. Dauermotzer Wolfgang Kubicki sagt Olaf Scholz sogar öffentlich voraus, er werde nicht wieder zum Kanzler gewählt. Kurzum: Die Sommerpause ist vorbei, die Zeit der Zurückhaltung auch. Gab natürlich nie wirklich eine. 

Trotzdem brodelt es noch ein wenig mehr, jetzt, da die Koalition in den Endspurt stolpert. Am 28. September 2025 ist Bundestagswahl, aber nur, wenn sich die Ampel zusammenreißt. Sonst früher. Der Wahlkampf ist längst angelaufen und damit das Ringen um die größte Profilierungsfläche. Wo ist das Konfliktpotenzial am größten? Wie wahrscheinlich ist ein vorzeitiger Bruch?

Rente – in der SPD schwindet die Geduld

Neben einem höheren Mindestlohn waren sichere Renten eines der wichtigsten Wahlversprechen von Olaf Scholz. Doch die Fronten bei dem SPD-Herzensprojekt sind in der Koalition seit Monaten verhärtet. Zwar -haben im März Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) das sogenannte Rentenpaket 2 vorgestellt. Eine Verabschiedung durch das Kabinett verhinderte der FDP-Mann zunächst im Haushaltsstreit. Als der Kabinettsbeschluss schließlich da war, erklärten zahlreiche Liberalen aber eine Erhöhung der Rentenbeiträge für ein No-Go.

Das Rentenpaket soll das sogenannte Rentenniveau von 48 Prozent auf absehbare Zeit sichern. Es steckt auch ein liberaler Aspekt im Paket: der Einstieg ins -Generationenkapital, wofür Geld angelegt werden soll. Doch der Widerstand gegen eine Erhöhung der Rentenbeiträge ist in der FDP groß, und das Generationenkapital reicht vielen Liberalen nicht aus.

In Schräglage: Christian Lindner, Robert Habeck und Olaf Scholz auf der Regierungsbank

Nach den jüngsten Wahlniederlagen in Sachsen und Thüringen erhöht die SPD den Druck: Dass Versprechen bei der Rente noch nicht eingelöst seien, liege daran, dass ein Koalitionspartner das Vorhaben in einer „Warteschleife“ halte, sagte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert. „Da spreche ich, glaube ich, für viele in der SPD, wenn ich sage: Der Geduldsfaden wird dünner.“ Ein Scheitern bei diesem Vorhaben verbietet sich für die SPD, nicht zuletzt weil das Versprechen sicherer Renten mit dem Kanzler selbst verknüpft ist. Gleichzeitig ist der liberale Widerstand massiv, seit den Landtagswahlen scheint er noch zu wachsen. Bruchwahrscheinlichkeit: 80 Prozent.

Migration: „Die Leute haben die Schnauze voll“

In der Debatte um die Migration geht es kreuz und quer. Panikmodus allenthalben. Die Ampel hat sich nach dem Attentat von Solingen auf ein Sicherheitspaket verständigt, das etwa die Kürzung von Sozialleistungen für Dublin-Flüchtlinge vorsieht. Das reicht aber der Union nicht, die Zurückweisungen an der Grenze fordert – und dabei auf Unterstützung von SPD und FDP setzen kann. Das wiederum könnte zu großen Problemen mit den Grünen führen, bei denen eine Verschärfung der Asylpolitik immer wieder für Streit sorgt.

Innenministerin Nancy Faeser hat bereits verkündet, ein Modell für europarechtskonforme Zurückweisungen gefunden zu haben. Wo ein politischer Wille ist, besteht in der Ampel meist auch ein juristischer Weg, wenn auch manchmal nur bis zum ersten Gerichtsurteil. Sollte es eine Einigung geben, wäre das neun Jahre nach der Flüchtlingskrise und Angela Merkels Weigerung, Schutzsuchende an der Grenze zurückzuweisen, ein geradezu historischer Kurswechsel in der Migrationspolitik.

Sieht aber so aus, dass die Liberalen selbst damit nicht zufrieden sind. Christian Lindner hat sich jüngst gegen Tabus ausgesprochen und ist auch bereit, über Grundgesetzänderungen zu sprechen. Nach den verlorenen Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen schimpfte der FDP-Chef: „Die Leute haben die Schnauze voll davon, dass dieser Staat möglicherweise die Kontrolle verloren hat bei Einwanderung und Asyl nach Deutschland.“ Die FDP-Fraktion hat einen dicken Forderungskatalog vorgelegt, der unter anderem weitere Einschnitte bei den Sozialleistungen für Asylbewerber verlangt. Es sind harte Verhandlungen zu erwarten, aber wegen des öffentlichen Drucks auch eine Verständigung. Bruchwahrscheinlichkeit: 40 Prozent.

Haushalt: Der Stoff, aus dem Streit gemacht ist

Geld ist ein Dauerthema. Am Dienstag bringt Finanzminister Lindner das Haushaltsgesetz 2025 in den Bundestag ein. Jenen Plan, der den Koalitionsspitzen zahlreiche hitzige Nachtsitzungen abverlangt hatte und an dessen Ende immer noch eine Finanzierungslücke von zwölf Milliarden Euro steht. Dann ist es am Parlament, das Zahlenwerk in ein Gesetz zu gießen und Löcher zu stopfen. Es dürfte wieder Schwerstarbeit werden. Die Zukunft der Koalition hängt an den Haushaltsexperten der Fraktionen. Vom „schwierigsten Haushalt der Legislatur“ spricht einer von ihnen. 

Derweil schraubt die SPD weiter an einer Reform der Schuldenbremse. „Wenn Sie fragen, was der strategische Ansatz ist“, sagt Fraktionschef Rolf Mützenich: „Dass wir nicht lockerlassen.“ Man wisse, dass eine Reform in dieser Regierung mit der FDP nicht zu machen sei, aber die Ideen könnten auch möglichen zukünftigen Koalitionen nützen. Soso …  

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Dennoch: Die Ampel wird den Haushalt durchziehen. Zu wichtig ist die finanzielle Grundlage für das, was die Parteien schon während der rauflustigen Haushaltsverhandlungen praktizierten: sich für den nächsten Wahlkampf zu profilieren. Bruchwahrscheinlichkeit: 30 Prozent.

Ukraine-Hilfen: Warten auf russisches Geld

Deutschland ist in Europa der größte Unterstützer der Ukraine im Kampf gegen den russischen Aggressor. Rund 34 Milliarden Euro hat die Hilfe seit Beginn des Krieges im Februar 2022 bereits gekostet. Humanitäre Hilfe, Flüchtlingsaufnahme und Waffen. In diesem Jahr sind etwas mehr als sieben Milliarden Euro an Militärhilfen geplant – Geld, das weitgehend verbraucht oder verplant ist. Zuletzt kündigte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) die Lieferung von zwölf weiteren Panzerhaubitzen an, Kostenpunkt: 150 Millionen Euro. 

Für 2025 sieht der Haushaltsentwurf nur noch vier Milliarden Euro für militärische Unterstützung vor. Die Regierung rechtfertigt das damit, dass zusätzliches Geld aus eingefrorenen russischen Ver-mögen gewonnen werde. Deren Zinserträge will man abschöpfen und der Ukraine zur Verfügung stellen. Sie dienen auch als Sicherheit für einen Kredit über etwa 50 Milliarden Dollar, den die G7-Staaten der Ukraine in Aussicht gestellt haben. Darüber wird gerade zwischen den USA und der EU verhandelt. Nur: Was, wenn man damit nicht rechtzeitig fertig wird – oder das Projekt ganz scheitert?

Wird der Zeitplan gerissen, müssen die Mittel für die Militärhilfe vorerst weiter aus den nationalen Haushalten kommen. Ei-gentlich hat die Koalition für diesen Fall vorgesorgt: Schon im Dezember 2023 verständigten sich Olaf Scholz, Christian Lindner und Robert Habeck darauf, die Schuldenbremse für die Ukraine-Hilfe auszusetzen, wenn eine unvorhergesehene Notsituation entsteht. Streitereien in der Koalition sind da programmiert, über die Notwendigkeit, über die Höhe, über alles. Mitten im Wahljahr. Bruchwahrscheinlichkeit: derzeit 30 Prozent, potenziell 75 Prozent. 

Mieten: Wie du mir, so ich dir

Was als Durchbruch verkauft wurde, hat für  Unmut in der SPD gesorgt. Kurz vor Fristende einigte sich die Ampel auf eine Verlängerung der Mietpreisbremse über 2025 hinaus. Diese soll künftig bis 2029 gelten. Im Gegenzug setzte die FDP enge Grenzen bei der Vorratsdatenspeicherung durch. Nur das „Quick Freeze“-Verfahren kam durch. Es erlaubt Ermittlungsbehörden, bestimmte Daten von Verdächtigen speichern zu lassen, unter strengen Auflagen.

Man fragt sich zu Recht: Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Die zwei fachfremden Themen waren miteinander verknüpft worden. Wie du mir, so ich dir. Ampel-Business as usual. Dann ging nichts vorwärts.

Aber jetzt ist alles gut – oder? Gemach, gemach. Zwar soll die Verlängerung der Mietpreisbremse im Herbst vom Kabinett beschlossen werden, jedoch reicht den Genossen das nicht aus. Sie wollen ein üppigeres Mietpaket schnüren, die „Mietrechtsreform II“. Der Zeitplan ist noch offen, doch die Erwartungshaltung klar: Es muss auch eine Absenkung der sogenannten Kappungsgrenze und einen verpflichtenden Mietspiegel geben. Keine Widerrede. 

Schon vor dem Wahldebakel in Sachsen und Thüringen raunte es aus der SPD, sie könne im Zweifel andere Themen daran knüpfen – ganz nach FDP-Manier –, sollte das Mietpaket blockiert werden. Nach der Schlappe ließen Spitzengenossen durchblicken, dass sie hier keinesfalls nachgeben würden. Schließlich habe die SPD, wie auch bei der Rente, das Mietthema plakatiert. Bruchwahrscheinlichkeit: 60 Prozent.