Nach Kemmerich-Krise und Minderheitsregierung steht Thüringen erneut vor einem Stresstest. Dank der AfD. Wieder einmal scheint in Erfurt alles möglich zu sein.
Für das Land Thüringen wurden in den vergangenen Jahren so einige interessante Begriffe gefunden: Politiklabor, Experimentierfeld, Testfall. Nur hier gelangte mit Bodo Ramelow ein linker Ministerpräsident ins Amt, wählte die AfD den FDP-Regierungschef Thomas Kemmerich und tolerierte die CDU unter Mario Voigt de facto eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung.
Aber es geht noch verrückter. Jetzt ist die von Björn Höcke geführte AfD nicht nur die stärkste Fraktion im Landtag und besitzt damit das Vorschlagsrecht bei der Wahl des Landtagspräsidenten. Sie verfügt mit 32 von 88 Mandaten auch über eine sogenannte Sperrminorität: Sie kann alles blockieren, was eine Zweidrittel-Mehrheit benötigt – und das ist eine ganze Menge.
Auf der anderen Seite setzen sich die thüringischen Verhältnisse fort. Das heißt, jenseits von AfD und Linken kann sich keine Mehrheit bilden. Weil niemand mit der Höcke-Partei zusammenarbeiten will und die CDU sich, was die Linke betrifft, zumindest formal an ihren Abgrenzungsbeschluss gebunden sieht, ist es wieder so gut wie unmöglich, eine Mehrheitsregierung zu bilden.
Stattdessen gibt es eine Patt-Situation: 44 Abgeordnete von CDU, BSW und SPD stehen 44 Abgeordneten von AfD und Linkspartei gegenüber. Damit ist alles möglich: Von einem völlig neuen Regierungskonstrukt bis zum völligen Chaos, auf das Björn Höcke und seine Partei nur warten.
Aber der Reihe nach.
Test 1: Wahl des Landtagspräsidenten – AfD oder nicht AfD?
Zum ersten Test im gerade neu renovierten Politiklabor Thüringen wird die Wahl des Landtagspräsidenten. Das Parlament muss sich bis zum 1. Oktober konstituiert haben. Und ohne einen Präsidenten ist es nicht arbeitsfähig. Die Geschäftsordnung des Landtags und die zugehörigen Absprachen im Ältestenrat räumen der größten Fraktion im ersten und zweiten Wahlgang das alleinige Vorschlagsrecht ein. Und diese Fraktion ist die AfD.
Findet der Kandidat in beiden Wahlgängen nicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen in geheimer Wahl, kann die Bewerberliste geöffnet werden. Dann gelten allein die Regeln der Landesverfassung, die besagt, dass der Landtag „aus seiner Mitte“ einen Präsidenten wählt und jeder Abgeordnete allein seinem Gewissen verpflichtet ist.
Die Landeschefs der drei potenziellen Regierungsparteien – Mario Voigt (CDU), Katja Wolf (BSW) und Georg Maier (SPD) – sind sich einig, dass sie keinen AfD-Präsidenten wollen. Die Frage bei Voigt und Wolf ist jedoch, ob alle Abgeordneten ihrer Fraktionen das genauso sehen. Die CDU-Abgeordnete Martina Schweinsburg hatte sich bereits im stern offen für einen AfD-Kandidaten gezeigt. Und die BSW-Fraktion ist ohnehin schwer zu kalkulieren.
Allerdings kann sich eine Anti-AfD-Allianz zusätzlich auf die Linke mit ihren zwölf Abgeordneten stützen. Dazu gehört auch Noch-Ministerpräsident Ramelow, der laut vor einem rechtsextremen Parlamentschef warnt. Freilich wird es nicht einfach, sich auf einen gemeinsamen Alternativkandidaten zu einigen.
Gelänge es schließlich der AfD doch, die Wahl für sich zu entscheiden, wäre dies ein größerer Coup als die Kemmerich-Wahl. Denn ein Landtagspräsident ist nicht nur die protokollarische Nummer eins im Land. Er leitet die zugehörige Verwaltung, besitzt eine große Entscheidungsmacht in vielen parlamentarischen Verfahren – und leitet die Abstimmung über den neuen Ministerpräsidenten.
Test 2: Koalitionsbildung – irgendwas ohne AfD
Diese Wahl, die ebenfalls geheim durchgeführt wird, ist der zweite große Test für Thüringen. Derzeit ist völlig unklar, ob sich eine Koalition aus CDU, BSW und SPD bildet. Voigt will diese Woche Wolf und Maier treffen, um ein Bündnis zu besprechen.
Parallel dazu reden die drei Landeschefs mit Noch-Ministerpräsident Ramelow. Formal soll es darum gehen, dass die Landesregierung, die bis zur Wahl eines neues Ministerpräsidenten geschäftsführend und unbefristet im Amt bleibt, einen Landeshaushalt für das nächste Jahr vorbereiten soll. Doch natürlich dürfte dabei auch über die Wahl des Landtagspräsidenten und eine mögliche Unterstützung durch die Linke bei der Regierungsbildung gesprochen werden.
Ramelow hat sich bereits indirekt dazu bereit erklärt, Voigt zum Ministerpräsidenten zu wählen, derweil Linke-Landeschefin Ulrike Grosse-Röthig versucht, den Preis in die Höhe treiben: Es sei auch eine rot-rot-rote Minderheitsregierung Wolf mit CDU-Tolerierung möglich, sagte sie.
Das Ergebnis dieses taktischen Durcheinanders könnte sein, dass sich die Linke kollektiv enthält und damit den Christdemokraten erst im dritten Wahlgang eine relative Mehrheit ermöglicht. So hatte es die CDU im März 2020 nach der Kemmerich-Krise bei der Wiederwahl Ramelows gehalten.
Ein Störfaktor der Gespräche wird Sahra Wagenknecht sein. Die BSW-Bundesvorsitzende hat sich bereits selbst öffentlich eingeladen, weil sie eine Koalition fürchtet, die ihren Populismuskurs in Berlin und damit einen Erfolg bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr gefährdet.
BSW-Landeschefin Wolf wiederum will Wagenknecht aus den Sondierungen am liebsten heraushalten, sie präferiert ein informelles Gespräch zwischen der Parteigründerin, sich selbst und Voigt. Dabei soll es vor allem darum gehen, wie die bundespolitischen Bedingungen erfüllt werden können. So soll sich die neue Landesregierung etwa gegen den Ukraine-Krieg und die Stationierung von US-Raketen positionieren. Ungewiss bleibt, ob sich Wolf von Wagenknecht emanzipieren kann. Dabei wird wiederum entscheidend sein, inwieweit sie ihre Fraktion zusammenzuhalten vermag, zumal Wagenknecht für ihre Volten berüchtigt ist.
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Am Ende dürfte es aber zu einer relativen Mehrheit für die CDU gegen einen wahrscheinlichen AfD-Kandidaten reichen. Ist Voigt Ministerpräsident, hat seine Landespartei ihr Hauptziel erreicht: Sie sitzt wieder – so wie zwischen 1990 und 2014 – in der Erfurter Staatskanzlei. Voigt könnte dann mit dem Amtsbonus in die nächste Wahl ziehen und sich wie CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer in Sachsen als volksnaher Antipode der AfD etablieren.
Die Linke würde hingegen auf das ostdeutsche Durchschnittsniveau einschrumpfen. Damit wären mittelfristig auch wieder stabilere Mehrheiten im Landtag möglich.
Test 3: Regieren – gegen die AfD
Der dritte Test wird das praktische Regieren. Variante A: Voigt führt eine Koalition aus CDU, BSW sowie SPD und lässt sich von einzelnen Linke-Abgeordneten wie Ramelow zur Mehrheit verhelfen. Variante B: Er leitet eine Minderheitsregierung aus CDU und SPD, wobei er sich von BSW und Linkspartei formal tolerieren lässt. Variante C: Die Minderheitsregierung muss im Landtag mit wechselnden Mehrheiten arbeiten, womit automatisch die AfD im Spiel wäre.
So oder so muss Voigt überhaupt erst einmal gewählt werden, die AfD besitzt so einige Möglichkeiten zur Destruktion. Sie könnte etwa eine Ministerpräsidentenwahl beantragen und Höcke als Kandidaten aufstellen, bevor sich CDU, BSW und SPD auch nur ansatzweise geeinigt haben. Dann müsste Voigt ohne sichere Mehrheit in die Abstimmung gehen, um zu verhindern, dass ein Rechtsextremist ins Amt gelangt.
Denn: Bei einem dritten Wahlgang ist laut Landesverfassung der Bewerber mit den „meisten Stimmen“ gewählt, wobei laut juristischer Mehrheitsmeinung die Nein-Stimmen nicht zählen würden. Höcke wäre also im Zweifel sogar nur mit seiner eigenen Ja-Stimme neuer Regierungschef. Es wäre sein ultimativer Triumph.
Das dann folgende Chaos wäre unbeschreiblich. Eine Neuwahl des Landtages könnte die AfD blockieren. Denn dahin führen nur zwei Wege: Die Vertrauensfrage des Ministerpräsidenten oder die Selbstauflösung des Parlaments – mit Zweidrittel-Mehrheit.
Und genau diese Mehrheit haben die anderen Parteien nicht mehr.