Die Generation der Weltmeister im DFB-Team ist abgetreten. Niclas Füllkrug wäre bereit, Führungsarbeit zu übernehmen – möchte dafür aber mehr sein als bloß Einwechselspieler.
Wer in diesen Hitzetagen mit Bussen oder Bahnen unterwegs ist, sieht viel Haut, oftmals auch reich verzierte. Löwenmäuler auf Oberarmen, Adlerflügel auf Schulterblättern, einen ganzen Zoo von Königstieren. Einst in die Haut gestochen in der Hoffnung, ein wenig von der Kraft und Eleganz der Tiere möge auf den Träger der Tattoos übergehen.
Auch wenn man noch nie einen dieser Menschen mit eingravierten Vogelschwingen hat fliegen sehen – der Glaube an den magischen Energiefluss lebt fort, und nun hat er auch die deutsche Nationalmannschaft gepackt. Im Trainingslager in Herzogenaurach werden zwar keine Tierbilder gestochen, wohl aber Rückennummern verteilt. Nach den Abschieden von Toni Kroos, Ilkay Gündogan, Manuel Neuer und Thomas Müller sind einige Ziffern frei geworden. Und was das Raubtiertattoo dem kleinen Mann bedeutet, bedeutet dem Fußballprofi die Rückennummer. Auch ihr werden Zauberkräfte zugesprochen.
Ruhmreiche Rückennummern neu vergeben
Deniz Undav, ein Mann mit sehr überschaubarer DFB-Karriere, schnappte sich die 13 von Thomas Müller, Weltmeister 2014, 131 Länderspiele. Jene legendäre 13, die zuvor schon Michael Ballack und Gerd Müller getragen hatten. Einigermaßen größenwahnsinnig fiel auch die Wahl von Robert Andrich aus. Er griff sich die 8 von Toni Kroos, seinem Nebenmann auf dem Platz bei der EM. Andrich war allerdings von Bundestrainer Julian Nagelsmann ins Team geholt worden, weil er das komplette Gegenteil von Kroos darstellt. Ein Raubein, ein Kämpfer, der aufräumte hinter dem feingliedrigen Toni.
Nun aber ist Andrich der neue Kroos und Undav der neue Müller (Thomas und Gerd zugleich), und Gündogans 21 übernimmt Torwart Alexander Nübel.
Das wiederum dürfte Niclas Füllkrug missfallen. Für ihn wäre es von Vorteil gewesen, wenn Kai Havertz sich für die 21 entschieden hätte und damit seinen Anspruch auf die Gündogan-Nachfolge unterstrichen hätte. Die Planstelle hinter den Spitzen ist ja ab sofort vakant.
Das deutsche Spiel sortiert sich gerade neu
Zum Leidwesen von Füllkrug galt während der EM die Regel: Nummer 7 (Havertz) und Nummer 9 (Füllkrug) gleichzeitig auf dem Feld – passt nicht. Zwei Mittelstürmer, das ist einer zu viel. Nun aber, da sich das deutsche Spiel neu sortiert nach den zahlreichen Rücktritten, schöpft Füllkrug Hoffnung, dass der vielseitig begabte Havertz sich vom Sturmzentrum auf die Position des Spielgestalters zurückzieht. Was Raum für Füllkrug schaffen würde und ihm womöglich einen Platz in der Startelf bringen könnte. Füllkrug machte am Mittwoch schon mal Werbung für dieses Modell. Er und Havertz würden gut harmonieren im Training, „Kai hat mir schon ein paar Dinger aufgelegt.“
Während der EM war die Füllkrug-oder-Havertz-Frage die große Debatte im deutschen Lager gewesen. Füllkrug kam stets als Einwechselspieler – und hatte meist einen „großen Impact“ aufs Spiel, um es mit den Worten von Nagelsmann zu sagen. Im letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz köpfte er in der Nachspielzeit den 1:1-Ausgleich und sicherte dem DFB-Team damit den Gruppensieg.
Bloß: Was war daraus zu lesen? Eine Empfehlung für die erste Elf? Oder waren Füllkrugs Auftritte nicht vielmehr der Beweis dafür, welch großartiger Joker er doch ist?
Die „Bild“-Zeitung witterte Zündstoff und versuchte, Nagelsmann die Aufstellung zu diktieren („Fülle in die Startelf!“), doch die Kampagne lief ins Leere. Fülle blieb auf der Bank hocken.
Niclas Füllkrug meint, er sei aufgerückt in der Hierarchie
Eine Rolle, mit der er sich schwertat, wie in Herzogenaurach aus seinen Worten rauszuhören war. Füllkrug sagte, er hatte „Gier ausstrahlen und es dem Bundestrainer möglichst schwer machen“ wollen, ohne jedoch dabei schlechte Stimmung im EM-Camp zu verbreiten.
Nagelsmann Nations League Kader 11:55
Nun aber, da das Nationalteam „ein paar ganz, ganz große Namen verlassen“ haben, glaubt Füllkrug, dass sich in der „krass veränderten Mannschaft“ neue Chancen eröffnen würden – auch für ihn. Schon jetzt glaubt er, „vielleicht ein bisschen nach oben gerutscht zu sein in der Hierarchie.“
Füllkrugs Sehnsucht, wahrgenommen zu werden als Führungsspieler, als Stammkraft und nicht länger als Back-up, ist groß. Diese Sehnsucht führte auch zu seinem kurzfristigen Wechsel von Borussia Dortmund zu West Ham United. Füllkrug sagte am Mittwoch, der BVB habe im Sommer einen Transfer auf der Stürmerposition getätigt, den er, Füllkrug, „nicht als den größten Vertrauensbeweis“ gewertet hätte.
Eine Anspielung auf die Verpflichtung von Serhou Guirassy, der für 17 Millionen Euro vom VfB Stuttgart nach Dortmund kam. Eine Kränkung offenbar für Füllkrug, der in der vergangenen Saison einer der besten BVB-Spieler gewesen war. Sein Tor gegen Paris Saint-Germain brachte Dortmund ins Finale der Champions League, was den größten internationalen Erfolg seit elf Jahren bedeutete.
In London spürt Füllkrug die vermisste Wertschätzung
Füllkrug vermied es, den BVB zu kritisieren. Er tat es indirekt, indem er seinen neuen Klub West Ham überschwänglich lobte. In London scheint ihm all das gegeben zu werden, was er in Dortmund vermisste. „Ich habe dort eine wahnsinnige Überzeugung und eine Wertschätzung in allen Bereichen gespürt. Der Trainer wollte mich unbedingt verpflichten und hat mir einen tollen Plan vor Augen geführt.“
Bislang jedoch spielt Füllkrug bei West Ham noch nicht die Rolle, die er sich wünscht. In drei Premier League-Partien wurde er drei Mal eingewechselt. Für Füllkrug angeblich kein Problem: „Ich gebe mir Zeit und will erstmal ankommen.“
PAID Manuel Neuer Kommentar 20.00
In der Nationalmannschaft hingegen wird Füllkrug schon bald gebraucht. Am Samstag geht es in der Nations League gegen Ungarn, eine Mannschaft, die einen rustikalen, körperbetonten Fußball spielt. Ein perfekter Gegner für Füllkrug, der ausreichend Wucht und Masse mitbringt, um eine Abwehrreihe auseinander zu reißen.
Womöglich geht also schon in drei Tagen in Düsseldorf der Traum von einem Startelfplatz in Erfüllung für ihn. Eine Aussicht, die Füllkrug beflügeln dürfte – auch ohne Adler-Tattoo auf den Schulterblättern.