Die CDU in Thüringen hat selbst mit BSW und SPD keine Mehrheit – sie braucht ausgerechnet die Linke. Das Problem platzt in die Kanzlerkandidatur-Debatte. Wie agiert Friedrich Merz?
Die ersten Hochrechnungen für die Landtagswahl in Thüringen schienen am Sonntagabend für die CDU eher Gutes zu verheißen: Als zweitstärkste Partei hinter der Björn-Höcke-AfD besaß Spitzenkandidat Mario Voigt automatisch den Auftrag, eine Regierung zu bilden. Und gemeinsam mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und der SPD schien es auch halbwegs für eine Mehrheit zu reichen.
Doch es schien eben nur so. Je mehr Wahllokale ausgezählt waren, um so ungewisser wurde die Mehrheit, bis sie schließlich ganz zerstob. Laut dem vorläufigen amtlichen Ergebnis kommen CDU, BSW und SPD nur auf 44 Sitze im Landtag – und damit auf genauso viele Mandate wie AfD und Linke. Es ist ein Patt, dass direkt in die Unregierbarkeit führen könnte.
Wieder muss sich die Union entscheiden, ob sie mit der Linken kooperiert – oder sich auf Stimmen der AfD einlässt. Beides ist bekanntlich durch einen Parteitagsbeschluss auf dem Jahr 2018 kategorisch ausgeschlossen. Und jetzt?
In Berlin sorgt das Ergebnis schon für Debatten. Für Friedrich Merz, den Parteichef, kommt das Problem zur Unzeit. Am Abend traf er sich in der Parteizentrale mit einigen führenden Christdemokraten, um über den weiteren Weg zu beraten. Er kann keinen Streit gebrauchen, will die Harmonie, die derzeit in seiner Partei herrscht, durch nichts gefährden und möglichst in Ruhe zur Kanzlerkandidatur segeln. Dieser Plan ist jetzt in Gefahr. Mit dem Patt in Erfurt verlängern sich die sogenannten thüringischen Verhältnisse, die das Land schon 2020 in eine schwere Regierungskrise führten: Nur hier ist jenseits der teils rechtsextremistischen und der sozialistischen Partei weiterhin keine Mehrheit möglich. Für Merz heißt das: Die Lage in Thüringen wird plötzlich zu einem Test seiner Autorität.
Eine Zerreißprobe droht, wie nach der Landtagswahl 2019. Und wieder kann sie enorme bundespolitische Auswirkungen generieren. Denn als damals die CDU in einer geheimen Wahl zusammen mit AfD und FDP den Liberalen Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten wählte, führte dies nicht zur Fast-Implosion der Großen Koalition, sondern auch zum Rückzug von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer.
Merz war damals Profiteur. Jetzt könnte er ähnlich wie seine Vorvorgängerin über Thüringen stolpern. Spätestens nach der Landtagswahl in Brandenburg am 22. September will der CDU-Vorsitzende als Kanzlerkandidat der Union nominiert werden – wenn, ja wenn nicht in Erfurt mal wieder einmal alles schief geht. Und die Chancen für das Schiefgehen stehen ausgesprochen gut.
Für Gespräche bleibt nur wenig Zeit
Merz steckt gemeinsam mit Voigt in der Thüringen-Falle. Die große Mehrheit, die man mit der AfD hätte, ist verführerisch. Aber Gespräche mit der Höcke-Partei gilt es unbedingt zu vermeiden. Lässt Merz dem Landesverband freie Hand in den nächsten Wochen, fühlen sich seine Leute in Erfurt womöglich an nichts gebunden. Mischt er sich hingegen zu stark ein, könnte das zu Abwehrreaktionen führen. Eine Zauberformel für den richtigen Umgang gibt es für Merz gerade nicht.
Der Fluchtweg muss sehr schnell gefunden werden. Es bleiben nur 30 Tage Zeit. Spätestens dann trifft sich laut Landesverfassung der neue Landtag, um sich mit der Wahl eines Präsidenten zu konstituieren – wobei erstmals die AfD als stärkste Fraktion das in der Geschäftsordnung festgelegte Vorschlagsrecht besitzt.
Wollen die anderen Parteien nicht zulassen, dass ein Rechtsextremist über ein deutsches Parlament gebietet und die protokollarische Nummer 1 im Land ist, müssen sie sich auf die Nichtwahl des AfD-Kandidaten einigen und schließlich im dritten Wahlgang für einen zuvor ausgehandelten Alternativbewerber stimmen. Das heißt auf die thüringischen Verhältnisse übersetzt: Alle Beteiligten müssen ihre wie immer auch geartete Koalition bereits informell sondiert haben.
Die Thüringer CDU hat bereits Erfahrungen mit innovativen Notlösungen. Nach dem Schock der Kemmerich-Wahl schloss sie mit Linke, SPD und Grünen eine sogenannten Stabilitätspakt und ließ Ramelow per Enthaltung zurück ins Ministerpräsidentenamt. Als dann die vereinbarte Neuwahl des Landtags insbesondere an einigen CDU-Renegaten scheiterte, begann Fraktionschef Voigt zu taktieren. Mal stützte er die rot-rot-grüne Minderheitsregierung, um staatsbürgerliche Verantwortung zu zeigen. Mal setzte er bei Abstimmungen auf AfD-Stimmen, um Profil zu gewinnen. Ramelow musste zusehen.
Nun haben sich die Verhältnisse auf absurde Weise gedreht. Zwar ist die Landespartei des Ministerpräsidenten ist fast auf ein Drittel ihres Rekordwertes von 2019 zusammengeschrumpft. Aber Ramelow bleibt so lange geschäftsführend im Amt, bis ein Nachfolger gewählt ist, wobei er dafür klare Vorstellungen hat.
Ramelow: „Alles, was notwendig ist…“
So sagte der Linke am Wahlabend dem Sender phoenix: „Ich unterstütze denjenigen, das in diesem Fall Herr Voigt, der den Auftrag von den Wählern hat, im demokratischen Spektrum zu einer Mehrheitsregierung zu kommen. Und alles, was dazu notwendig wird, werde ich unternehmen.“
Wirklich alles? Wird der Abgeordnete Ramelow, der er ja auch ist, bei der Ministerpräsidentenwahl das Land über die Partei stellen, um Voigt die Mehrheit zu verschaffen? Und wird Voigt mit dem Regierungschef direkt verhandeln? Macht das seine Partei mit, die doch einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linken hat? Der CDU-Landeschef sagte jedenfalls am Wahlabend immer wieder, dass er keine Minderheitsregierung bilden will.
Der Traum von der Kanzlerschaft könnte für Merz scheitern
Für Merz ist die Situation in ihrer Unüberschaubarkeit ebenso gefährlich, wie sie damals für Kramp-Karrenbauer war. Schon eine Koalition mit dem populistischen Linke-Ableger BSW ist nach allem, was von ihm dazu zu hören war, persönlich und politisch zuwider. Und jetzt soll auch noch die Linke dazukomen, und sei es in Form eines mildtätigen Retters Ramelow?
Schon lange vor der Landtagswahlen hieß es, dass Merz‘ ewiger Traum von der Kanzlerschaft ausgerechnet am kleinen Thüringen scheitern könnte. Einer wird sich die Entwicklungen in den kommenden Tagen jedenfalls ganz genau angucken: CSU-Chef Markus Söder.