CDU-Chef Friedrich Merz forderte nach Solingen erst einen Aufnahmestopp, dann ruderte er zurück. Ein Ausrutscher? Mitnichten: Merz und der Asyl-Artikel 16a des Grundgesetzes waren noch nie enge Freunde.
Friedrich Merz schrieb eine Mail. Sie entstand unter dem Eindruck des Attentats von Solingen, bei dem mutmaßlich ein nicht rechtzeitig abgeschobener syrischer Asylbewerber drei Menschen ermordet hatte. In seinem Schreiben, das am vergangenen Sonntag auf der CDU-Homepage veröffentlicht wurde und große Aufmerksamkeit fand, forderte Merz von Bundeskanzler Scholz schnelle Beschlüsse, um einen Angriff wie in Solingen künftig zu verhindern. Dazu zähle ein Aufnahmestopp für Menschen aus Afghanistan und Syrien. „Weitere Flüchtlinge aus diesen Ländern nehmen wir nicht auf“, hieß es in der „MerzMail“.
Aufnahmestopp und Einschränkung des Asylrechts – nur ein typischer Friedrich Merz?
Diese Forderung käme einer Einschränkung des im Grundgesetz vorgesehenen Individualrechts auf Asyl gleich. Deshalb stieß der Vorstoß nicht nur auf Widerstand aus den Reihen der Koalition, zuletzt bis hinauf zum Bundeskanzler, er führte auch zu Nachfragen aus den eigenen Reihen. Mittlerweile hat Merz seine Forderung relativiert und spricht nur noch von einem „faktischen Aufnahmestopp“. Alles erledigt also, ein typischer Merz eben, immer ein bisschen übers Ziel hinaus – und dann wieder zurück?
Nicht ganz. Denn Friedrich Merz und das Grundrecht auf Asyl haben eine lange gemeinsame Geschichte – wobei das Wort „gemeinsam“ irreführend ist. Denn genau genommen, hat der heutige CDU-Vorsitzende immer mal wieder gegen Artikel 16a aufbegehrt. Und auch, dass er es hinterher anders gemeint haben will, ist nicht zum ersten Mal passiert.
Im März 2000, Merz war gerade als Nachfolger des wegen der Spendenaffäre zurückgetretenen Wolfgang Schäuble zum Vorsitzenden der Unions-Fraktion im Bundestag gewählt worden, gab der neue Oppositionsführer der Zeitung „Die Woche“ ein Interview. Darin wurde er auch zur Zuwanderung gefragt. Dafür, so Merz, müsse man Grundbedingungen formulieren. Eine davon sei: „Die Zuwanderung nach Deutschland darf nicht erhöht werden. Das heißt, wenn man Spezialisten holen will, kann man das Asylrecht nicht unangetastet lassen.“ Auf die Nachfrage, ob das die Abschaffung des Asyl-Artikels 16a im Grundgesetz bedeute, antwortete Merz: „Ja, zu Gunsten einer institutionellen Garantie.“
Einen ähnlichen Vorschlag hatte schon 1990 der Freistaat Bayern in einer Bundesratsinitiative vorgelegt. Demnach sollte das Grundrecht auf eine institutionelle Garantie reduziert werden, die unter einem Gesetzesvorbehalt stehen sollte. Auch der Rechtsschutz für abgelehnte Bewerber sollte eingeschränkt werden. Die Initiative scheiterte.
„Unsere Generation will sich nicht mehr derart in Haftung für unsere Vergangenheit nehmen lassen“
Merz argumentierte zehn Jahre später mit Blick auf die Zuwanderung von Fachkräften, Deutschland brauche die Zuwanderung „von Menschen, die wir haben wollen“. Das setze aber voraus, „dass wir sagen, wen wir nicht haben wollen.“ Dazu habe „die alte Bundesrepublik – aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus, die ich respektiere – nicht den Mut gefunden. Unsere Generation will sich nicht mehr derart in Haftung für unsere Vergangenheit nehmen lassen.“
Vor allem der letzte Satz brachte Merz harte Kritik ein: Diese Äußerungen seien „ein Schlag ins Gesicht der Opfer und Überlebenden des Naziregimes“, sagte der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel. Mit dem „Abstreifen der Verantwortung“ für die Lehren aus der deutschen Geschichte werde der „untaugliche Versuch unternommen, sich von einem Schuldgespenst freizusprechen, das längst nicht mehr existiert hat“.
Scholz: Individualrecht auf Asyl bleibt 06.48
2002 verlor Merz den Fraktionsvorsitz an Angela Merkel, 2005 schied er aus dem Bundestag aus und ging in die Wirtschaft. 2018 kehrte Merz zurück und bewarb sich nach Merkels Ankündigung, nicht mehr für den Parteivorsitz zu kandidieren, um ihre Nachfolge. In einer Veranstaltung der drei Kandidaten, neben Merz die spätere Siegerin Annegret Kramp-Karrenbauer und der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn, kam Merz wieder auf das Asylrecht zu sprechen. „Ich bin schon seit langer Zeit der Meinung, dass wir bereit sein müssten, über dieses Asylgrundrecht offen zu reden, ob es in dieser Form fortbestehen kann, wenn wir ernsthaft eine europäische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik wollen.“ Wenn es eine europäische Asylpolitik gebe, müsse das deutsche Asylrecht eingeschränkt werden.
Der nächste Vorstoß gegen das Asylgrundgrecht sollte durch die europäische Hintertür erfolgen
Die Äußerungen sorgten für einiges Aufsehen – und Merz reagierte. „Selbstverständlich“ stelle er das Grundrecht auf Asyl „nicht infrage, weil wir Politik aus christlicher Verantwortung und vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte machen“, schrieb Merz auf Twitter. Ihm sei es nur um eine Debatte gegangen, wie das Grundrecht auf Asyl und das europäische Recht zusammenwirken könnten.
Im Juli 2023 präsentierte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unions-Fraktion, Thorsten Frei (CDU), einen Vorschlag, der Artikel 16a quasi durch die europäische Hintertür aushebeln würde. Frei schlug vor, das Recht einzelner Migranten, auf europäischem Boden Asyl zu beantragen, abzuschaffen und durch Aufnahmekontingente zu ersetzen. Diese 300.000 bis 400.000 Flüchtlinge pro Jahr sollten direkt im Ausland ausgewählt und dann in Europa verteilt werden.
Als Merz nach dem Vorschlag gefragt wurde, antwortete er, man dürfe davon ausgehen, dass die Idee eng mit ihm abgestimmt sei: „Das ist ein wichtiger und guter Beitrag, um ein Problem zu lösen, das wir seit Jahren sehen, und wo es im Augenblick keine wirklich guten und überzeugenden Lösungen gibt.“ Maßgebliche Experten wie der Konstanzer Rechtsprofessor Daniel Thym äußerten sich kritisch zu dem Vorstoß.
Bemerkenswert an Merz‘ Vorschlägen ist, dass sie um einen Grundgesetzartikel kreisen, dessen reale Bedeutung längst minimal geworden ist. 2024 erhielten nur etwas mehr als 1000 Antragsteller tatsächlich Asyl wegen politischer Verfolgung durch einen Staat. Dazu hat vor allem beigetragen, dass sich Union und SPD 1993 bereits auf eine Einschränkung von Artikel 16a Grundgesetz verständigt hatten, die den Kreis möglicher Asylberechtigter deutlich reduzierte, unter anderem weil Deutschland umgeben ist von sicheren Drittstaaten.
Selbst wenn Artikel 16a wegfiele, würde europäisches Recht weiter gelten
Hinzu kamen nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) knapp 23.000 Menschen, die Flüchtlingsschutz wegen der Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure wie zum Beispiel Rebellentruppen erhielten. Rund 50.000 erhielten sogenannten subsidiären Schutz, zum Beispiel weil in ihren Herkunftsländern Krieg herrscht. Auf der anderen Seite erledigten sich aber fast 100.000 Fälle durch die Ablehnung des Asylantrags oder nach einer Rückführung in andere EU-Staaten nach dem Dublin-Verfahren. So hätte auch der mutmaßliche Attentäter von Solingen ursprünglich nach Bulgarien abgeschoben werden sollen, was nicht geschah. Dem stand aber nicht das Grundgesetz entgegen, sondern offenkundig Behördenversagen.
Der eigentliche Clou liegt aber darin, dass der Artikel 16a nach Ansicht von Rechtsexperten sogar heute schon wegfallen könnte, ohne dass sich tatsächlich viel änderte, weil ohnehin übergeordnetes europäisches Recht greifen würde. So gewährt Artikel 18 in der EU-Grundrechte-Charta das Asylrecht nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention. Und auch innerhalb der Europäischen Union gilt eine Richtlinie, die faktisch ein Individualrecht auf Asyl sichert, ähnlich wie es das Grundgesetz tut. Mithin drängt sich der Verdacht auf, dass Merz das individuelle Asylrecht und den Artikel 16a nur als Chiffre für einen Missstand nimmt, der aber mit ganz anderen Maßnahmen als einer Änderung des Grundgesetzes behoben werden müsste.