Nach Solingen wittert der CDU-Chef die Schwäche von Olaf Scholz. Er treibt den Kanzler, zielt auf den Bruch der Ampel und natürlich die Landtagswahlen. Wie reagiert der Sozialdemokrat?
Wenn es noch eines Bildes für die Distanz zwischen dem Bundeskanzler und der deutschen Bevölkerung bedürfte: Der Marktplatz in Jena liefert es am Dienstagnachmittag. Dabei trägt Olaf Scholz noch nicht einmal die Verantwortung dafür, sondern die Sicherheitsstufe 1.
Der Bereich um die Bühne ist hermetisch mit schwarzer Folie abgehängt, Absperrgitter trennen Politik, Wählerschaft und Medien voneinander, drumherum sind noch einmal Gitter aufgestellt, überall stehen Polizeibeamte herum. Bürgernähe sieht definitiv anders aus.
Aber immerhin, um die 600 Menschen sind zur SPD-Kundgebung gekommen. Es ist 16.37 Uhr, als Olaf Scholz auf die Bühne tritt, weißes Hemd, graue Anzugshose. „Einen schönen guten Tach“, sagt er. Während von weiter hinter „Hau ab!“-Rufe ertönen, ist Scholz binnen Sekunden bei Solingen.
„Angriff auf unsere Freiheit“
Das hier wird nicht nur eine Rede vor der politisch maximal aufgeladenen Landtagswahl in Thüringen am 1. September. Es wird auch eine zehn Minuten dauernde Antwort auf Friedrich Merz.
„Wir werden diesen Angriff auf unsere Freiheit, auf unsere Demokratie niemals hinnehmen“, ruft Scholz. „Wir werden mit aller Kraft das tun, was notwendig ist, um solche islamistische Terroristen zu bekämpfen.“ Für die mutmaßlichen Mörder gelte: „Wer so etwas tut, der hat das Recht auf Schutzbedürftigkeit verwirkt.“
Scholz gibt mal wieder den roten Sheriff: kompromisslos, knallhart. Doch seit dem Messerangriff mit drei Toten und acht Verletzen – mutmaßlich durch einen Syrer mit islamistischem Motiv –, ist dieses Image schwer beschädigt. Scholz, doch nur ein Ankündigungskanzler? Dieser Eindruck droht an ihm haften zu bleiben. Auch auf das Zutun des Oppositionsführers, der die Schwäche des Kanzlers wittert.
Friedrich Merz: „Das ist auch mein Bundeskanzler“
CDU-Chef Merz sieht in der Migrationspolitik offenkundig ein Thema, mit dem er Scholz in Bedrängnis bringen kann. Schließlich hatte der Regierungschef Abschiebungen „im großen Stil“ angekündigt, die Eindämmung irregulärer Migration zur Chefsache erklärt – und damit eng mit seiner Kanzlerschaft verknüpft.
Um 11.37 Uhr, nur rund eine Stunde nach einem länger vereinbarten Gespräch zwischen dem CDU-Chef und Scholz im Berliner Kanzleramt, erreicht die Hauptstadtpresse eine Einladung: Merz will sich noch am frühen Nachmittag zu den Konsequenzen aus Solingen äußern. Schon wieder?
Bereits am Wochenende hatte der Oppositionsführer in seinem wöchentlichen E-Mail-Newsletter („MerzMail“) teils weitreichende Konsequenzen aus dem mörderischen Messerangriff in Solingen gefordert, etwa einen Aufnahmestopp für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan. „Es reicht!“, empörte sich Merz, der den Kanzler am Dienstagmittag in die Pflicht nimmt. Mit einem vergifteten Angebot.
„Wenn wir uns zusammenraufen, Union und SPD, dann brauchen wir weder die FDP, noch die Grünen“, sagt Merz in Berlin. Damit fordert er Scholz indirekt zum Bruch der Ampel-Koalition auf, um mit der Union rasch „notwendige“ Entscheidungen in der Migrationspolitik zu treffen. Merz zählt als Maßnahmen auf: die Änderung des Aufenthaltsrechts, eine Stärkung der Binnengrenzkontrollen, mehr Befugnisse für die Bundespolizei. Gemeinsam hätte man dazu eine deutliche Mehrheit, sagt er.
Merz gibt sich entschlossen. „Geht nicht, ist kein Argument, das ich noch gelten lassen“, sagt er. „Dann muss es machbar gemacht werden.“ Schon Anfang September, in der ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause, könnte das Parlament erste Maßnahmen erarbeiten. Der Kanzler habe sich das im Vier-Augen-Gespräch am Morgen angehört, berichtet Merz, und zugesagt, darüber nachzudenken. Zugestimmt habe Scholz nicht. Seltsam…
Der CDU-Vorsitzende geht in die Offensive. Denn auch für ihn geht in diesen Tagen um viel, vielleicht sogar um alles. Für Kanzler Scholz sind die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen sowie später in Brandenburg das vorgezogene Endspiel um seine Karriere. Für Merz sind sie die letzte Hürde für das, was er seit Jahren anstrebt: die Kanzlerkandidatur der Union.
Theoretisch sind die Voraussetzungen für Merz gut. Die Ampel-Koalition wirkt zerrüttet und inzwischen geradezu handlungsunfähig. So wurde der Haushalt, der eigentlich eine Pflichtübung sein wollte, zur Zerreißprobe für die Ampel. Nachdem Scholz persönlich eingreifen musste, damit vor der Sommerpause zumindest Eckdaten präsentiert werden konnte, begann in den Ferien der Streit erneut. Sogar SPD-Chefin Saskia Esken bezeichnete das Durcheinander in der Ampel als „schwer erträglich“.
Dort setzt Merz nun an – wenngleich es nicht nach Strategie aussehen soll. Der Oppositionschef betont vor der Hauptstadtpresse mehrmals, dass es sich bei seinem Angebot nicht um ein politisches Manöver handle, zumal so kurz vor den Landtagswahlen. Vielleicht tut er das einmal zu viel.
Denn natürlich will Merz Scholz auch vorführen. Gewünschte Botschaft: Der Kanzler und seine Koalition zaudern und zögern, bringen nicht die Kraft auf, notwendige Entscheidungen zu treffen – die Union hingegen packt es an.
„Dem Bundeskanzler entgleitet mittlerweile das eigene Land“, sagt Merz. Ich bin ja nicht nur Oppositionsführer, ich bin auch Staatsbürger dieses Landes. Der Bundeskanzler ist, obwohl ich ihn nicht gewählt habe, auch mein Bundeskanzler.“ Die Union sei aufgrund ihrer langen Regierungszeit nicht unbeteiligt an der aktuellen Lage, wolle aber ihre staatspolitische Verantwortung annehmen.
Die Frage, die da mitschwingen soll: Scholz auch?
Scholz im SPD-Abstiegskampf
In Jena verteidigt Scholz seine Politik, betont die Erfolge der Ampel. Scholz muss dabei den Oppositionsführer nicht namentlich nennen. Es ist auch so klar, wer gemeint ist. „Da gibt es ja diejenigen, die schnelle Sprüche haben“, sagt Scholz. Aber: „Alle können sich darauf verlassen, wir arbeiten hart daran, dass wir diese Absicht auch in die Tat umsetzen.“ Die sei sein „Wille als Bundeskanzler“.
Kritik akzeptiert Scholz dennoch nicht. „Wir haben gehandelt“, ruft er. Die Ampel habe „mit ganz vielen Gesetzen“ geschafft, dass die irreguläre Migration gesunken und die Zahl der Abschiebungen um fast ein Drittel gestiegen ist. Dennoch: Die Hände in den Schoß legen dürfe man deswegen nicht. „Und deshalb ist es richtig, wenn auch der Oppositionsführer im Deutschen Bundestag Zusammenarbeit anbietet bei der Reduzierung der irregulären Migration.“
Es ist ein ebenso taktisches Gegenangebot an Merz, macht Scholz doch eine Einschränkung: „Aber genauso richtig ist, dass wir das machen entlang der Prinzipien, die für die Demokratie und die Art und Weise, wie wir dieses Land miteinander gestalten, wichtig sind.“ Es gälten nun mal internationalen Verträge, die Regeln der Europäischen Union und das Grundgesetz. Jenseits dessen seien „praktische Vorschläge willkommen“.
Es ist eine Spitze gegen Merz, der sich mit seiner Forderung, eine Art Aufnahmestopp für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan zu verhängen, viel Kritik eingehandelt hatte. In der SPD ist von „Parolen“ die Rede, sogar von „Populismus“. Tatsächlich wäre ein solches Vorhaben mit großen rechtlichen Schwierigkeiten verbunden, mindestens. Merz verteidigt die Idee zwar, räumt jedoch ein, dass es dort noch Klärungsbedarf gebe. Hauptsache: darüber reden! Das lässt sich als Oppositionsführer nunmal leichter sagen.
Scholz sagt: „Die Regierung und die Opposition sind immer gut gehalten, zusammenzuarbeiten, nicht quer – durcheinander, sondern miteinander. Und deshalb ist es wichtig, dass die Bereitschaft existiert.“
Schließlich findet der Kanzler In Jena nach einem Umweg über den Ukraine-Krieg doch noch zu Thüringen. Und seine gebeutelte SPD. Die Partei pendelt hier – ähnlich wie im Nachbarland Sachsen – gefährlich nahe der 5-Prozent-Hürde und könnte erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik aus einem Parlament fliegen.
Ein komplizierter Balanceakt für Merz
Nur die Sozialdemokraten, ruft Scholz über den Marktplatz, könnten noch dafür sorgen, dass Thüringen „ordentlich regiert“ werde. Was er meint: Die einzige realistische Mehrheitsoption ist laut Umfragelage eine Koalition von CDU und BSW – unter Führung der Union.
Aber auch für Merz ist die Lage in Thüringen hochgefährlich. Das Land, in dem sich notorisch schwer Mehrheiten bilden lassen, könnte ihn im Ernstfall sogar eigentlich sichere Nominierung kosten. Die Abgrenzung zur AfD bei gleichzeitiger Kooperation mit der Linke-Ausgründung BSW wird ein extrem komplizierter Balanceakt. Zudem ist in Erfurt politisch traditionell nichts vorhersehbar.
An diesem Sonntag entscheidet sich daher nicht nur, wie es für Thüringen oder Sachsen weitergeht – sondern auch für Scholz und Merz.