Solingen: Zwischen Alltag und Ausnahmezustand: Wie umgehen mit dem Unfassbaren?

Nach dem Messerattentat von Solingen scheint das Stadtleben ganz normal weiterzugehen. Doch normal ist in Solingen nach dem Anschlag von Freitagabend nichts mehr. 

Es könnte ein ganz normaler Sommertag in Solingen sein. Die Sonne scheint und die Menschen sitzen in den Cafés und den Eisdielen der Altstadt. Wären da nicht die Polizisten, die Einsatzwägen und die ganzen Absperrbänder. Wäre da nicht das Attentat, das sich nur wenige Meter von den eisessenden Menschen in der Nacht zuvor ereignet hat. 

Wäre da nicht der zu diesem Zeitpunkt immer noch flüchtige Täter; erst am späten Abend wird Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul verkünden, man habe einen „dringend tatverdächtigen“ Mann festgenommen. Und wären da nicht die Gespräche an den Café-Tische, die sich nur um dieses eine Thema kreisen: das Messerattentat auf das Fest der Vielfalt.

Liveblog – Solingen 9.45

Solingen ringt um den Umgang mit dem Unfassbaren. Wieder einmal. Es ist eine Stadt wie ein Arbeitnehmer, der trotz Bauchschmerzen zur Arbeit kommt. Sie funktioniert, aber irgendwie auch nicht. Wie aber umgehen mit der schrecklichen Tat? 

15 Seelsorger betreuen die Solinger in der Stadt

„Dass nach einem solchen Attentat mehrere Stunden bis hin zu Tagen vergehen, ehe die Menschen genau realisieren, was da eigentlich passiert ist, ist nicht ungewöhnlich“, sagt Simone Henn-Pausch, die vor einem der Absperrbänder in der Altstadt steht, die den Tatort weiträumig abschirmen. Pausch ist eine von fünfzehn Seelsorgern, die seit Freitagnacht im Einsatz sind, um die Menschen von Solingen in ihrer Trauer zu begleiten. „Die Stadt befindet sich noch in einer Art Schockzustand, das volle Ausmaß der Tat ist noch nicht bis zu jedem durchgedrungen.“ 

Die Menschen suchten deswegen Zuflucht in der Normalität. „Wir haben mit vielen Solingerinnen und Solingern gesprochen. Einige sind Betroffene und haben Freunde und Familie verloren. Andere haben die Bluttat mit angesehen und müssen sich diesen Schock von der Seele reden.“ Auch einfache Anwohner kämen auf ihr Team zu, die von der Tat nicht unmittelbar betroffen seien, aber über die Tat sprechen wollen, über die Tat sprechen müssen. „Viele spüren den Kummer, der in der Stadt herrscht und haben Gesprächsbedarf. Dafür sind wir da.“

Simone Henn-Pausch kümmert sich als Seelsorgerin, um die Menschen in Solingen in ihrer Trauer zu begleiten
© Victoria Jung

Tabea, 21, steht am Samstagmittag ebenfalls an der Absperrung, die die Polizei am Eingang zu der Straße aufgestellt hat, wo sich der Tatort befindet. Sie ist eine der Betroffenen. Sie sagt, ein Freund sei bei der Messerattacke am Freitagabend ums Leben gekommen, ein anderer liege schwer verletzt im Krankenhaus. Sie habe in den vergangenen Stunden 30 Anrufe erhalten. Sie sagt, sie sei fassungslos. „Das ist sehr kritisch, dieser Hass auf Menschen.“ In den Sozialen Medien habe sie gelesen, dass manche schrieben, das sei nur der Anfang, es ginge weiter. „Warum schreiben die das? Jeder hat Angst rauszugehen.“  

Manch einer schaut arabisch aussehende Menschen nun misstrauisch an

So geht es auch Sabine L. „Man geht schon mit einem komischen Gefühl zur Haustür hinaus“, sagt die 50-jährige Solingerin. Sie habe aus den Nachrichten vom Angriff auf das Solinger Stadtfest erfahren und ist mit ihrem Lebensgefährten heute in die Innenstadt gekommen, um mit eigenen Augen zu sehen, was in ihrer Heimatstadt in der letzten Nacht geschehen ist. „Es ist schwer zu begreifen, dass dort, wo eigentlich ein Fest der Vielfalt gefeiert werden sollte, nun Menschen kaltblütig ermordet wurden“.

Sie ärgere sich über sich selber. „Ohne es zu wollen, habe ich heute mehrere misstrauische Blicke in Richtung arabisch aussehender Männer geworfen.“ Immer wieder habe sie sich in Erinnerung rufen müssen, dass weder Herkunft noch Motiv des Täters bislang von der Polizei geklärt werden konnte. „Aber so eine Tat macht was mit einem. Ob man will oder nicht.“ Sie habe schlicht Angst. Deswegen habe sie ihren Lebensgefährten gebeten, sie bei ihrem Friseurbesuch heute in der Stadt und beim Einkauf zu begleiten. „Eigentlich will ich meinen Alltag wegen so einem Angriff nicht auf den Kopf stellen.“ Doch solange der Täter noch frei herumliefe, könne sie die Sorgen vor einem weiteren Angriff einfach nicht abschütteln.

Interview DJ Topic Solingen Anschlag 16:45

Einer, der der Welle der Angst etwas entgegensetzen möchte, ist Ari K. Als der 42-jährige Musiker am Samstagmorgen von der Bluttat am Solinger Stadtfest erfuhr, griff er sich seine Gitarre und machte sich auf in Richtung Altstadt. Dort setzte er sich ans Absperrband, zu den Trauernden, Besorgten und Betroffenen, die sich dort versammelt hatten und fing an zu spielen. „Mir geht es darum, ein bisschen Hoffnung und Zuversicht in die Herzen der Solinger zurückzubringen“, erklärt Ari. Eigentlich hatten er und seine Freunde geplant, heute zu dieser Zeit auf dem Fest der Vielfalt zu spielen und für ein offenes Miteinander zu singen. Dass er nun aus einem völlig anderen Anlass hier mit seiner Gitarre sitzt, trifft den überzeugten Christen tief. 

„Unsere Botschaft ist klar: Frieden und ein gemeinsames Miteinander. Eine solche Tat macht es unglaublich schwierig, die Herzen der Menschen zu erreichen.“ Trotzdem sitze er nun hier, und wollte seinen Teil dafür tun. Nachdem die letzten Töne seines zweiten Songs verklungen sind, tippt ihn eine blonde Frau mittleren Alters an. Sie wolle einfach danke sagen, dass er heute hier sei und schließt Ari in die Arme. „Solingen ist in der Vergangenheit so oft gefallen und hat sich immer wieder aufgerappelt“, erklärt Ari. Er möchte alles daransetzen, dass die Stadt dieses Mal nach ihrem Sturz nicht liegen bleibt und sich nicht dem Hass hingibt.

Den Gitarristen Ari K. trifft der Angriff in Solingen. Mit seiner Musik möchte er den Menschen helfen
© Victoria Jung

„Wir dürfen nicht alle in einen Topf werfen“

Auch Erkan Ö. ist der Meinung, dass Solingen in der Vergangenheit viel mitgemacht hat. „Auf der Stadt liegt irgendwie ein Fluch. Der rechtsextreme Brandanschlag 93, die Brandstiftung im März. Jetzt dieses Attentat. Solingen kann seine Vergangenheit einfach nicht abschütteln und wird immer wieder von solchen Tragödien getroffen“, sagt der 56-jährige. Er sei in Solingen aufgewachsen, kenne und verstehe die Stadt. „Die Leute haben Angst und sind misstrauischer als früher.“ Er als Muslim merke das jeden Tag. „Ich verurteile dieses Attentat auf Schärfste. Aber wir dürfen nicht den Fehler machen, alle Menschen, ganz besonders Muslime, in einen Topf zu werfen.“ 

Ihn trieb Freitagnacht aber erst einmal eine ganz andere Sorge um. „Ich war mit den Gedanken sofort bei meinem 16-jährigen Sohn“, sagt Erkan Ö. Doch nicht etwa aus Sorge, der Sohn könnte Opfer der Tat gewesen sein, sondern vielmehr an ihr beteiligt gewesen sein. „Unser Sohn hat schwierige Freunde“, so der 56-jährige. Er sei in den letzten Wochen und Monaten zunehmend religiöser geworden, drohte ihm und seiner polnischen Frau zu entgleiten. „Ich hatte große Panik, dass er irgendeine ganz große Dummheit begangen haben könnte. Als Eltern fühlt man sich in einer solchen Situation unendlich machtlos.“

Ein Vater hat Angst, dass sein Sohn etwas mit dem Attentat zu tun haben könnte

Später stellte sich heraus, dass sein Sohn zur Tatzeit gar nicht in Solingen gewesen ist und nicht mit der Tat in Verbindung gestanden haben kann. „Aber das zeigt, wie schwierig es ist, in Menschen hineinzublicken, die abdriften.“ Wenn es ihm schwerfalle, bei seinem eigenen Sohn sicher zu sein, welche Entscheidungen er trifft, dann sei es für Menschen außerhalb der eigenen Familie fast unmöglich.

Später am Abend findet eine spontane Trauerfeier auf dem Solinger Neumarkt statt. Als die Musik auf der Bühne beginnt, wischen sich viele Menschen die Tränen aus den Augenwinkeln. Rund 400 Trauende haben sich hier versammelt, um der Opfer und Verletzten der Messerattacke zu gedenken. „Die Stadt ist heute eine andere, als sie gestern war”, sagt die Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises Solingen, Ilka Werner. Das Geschehene habe den Menschen den Boden unter den Füßen weggezogen. „Wir sind weit entfernt von Antworten und Trost.” Trost – den braucht auch Thomas und vor allem seine Schwester. Er erzählt, dass sie mit ihrer Nachbarin beim Stadtfest gewesen sei, die Nachbarin überlebte die Nacht nicht. Sie ist eines der bislang drei Opfer des Attentats. 

Auf dem Solinger Neumarkt hat es am Samstagabend eine spontane Trauerfeier für die Opfer des Messerangriffs gegeben
© Victoria Jung

Der Mann der Nachbarin läge im Krankenhaus. „Der wurde ins Koma versetzt.” Die Kinder seien gekommen, um Kleidung zu holen und dem Vater ins Krankenhaus zu bringen. Seine Schwester sei im Moment der Attacke woanders gewesen, auf der Toilette, Getränke holen, er weiß es nicht. „Meine Schwester ist traumatisiert, die sitzt zu Hause und weint.” Thomas hofft, dass die Tat nicht noch mehr Hass in der Gesellschaft schürt. Er ist aber auch der Meinung, dass über das Thema straffällige Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen werden müsse. Das werde viel zu lasch in Deutschland gehandhabt. Wer straffällig geworden sei und keinen deutschen Pass besitze, müsse rigoros abgeschoben werden. „Das ist die objektive Meinung vieler Menschen”, sagt er. 

Touristen sprechen in Solingen von amerikanischen Verhältnissen

Einer, der zu der Tat traurige Parallelen zu seinem Heimatland ziehen kann, ist Steven. Der in New York lebende US-Amerikaner ist mit einer Gruppe Freunden nach Deutschland gereist, um die Gamescom, die riesige Messe für Videospiele, in Köln zu besuchen. Ihre Unterkunft befindet sich in Solingen, sie sind am Samstagmorgen auf dem Weg zum Bahnhof, um nach Köln zu fahren. Von der Messerattacke hätten sie gehört. „Wir sind schockiert“, sagt der 29-Jährge. Sie hätten nicht erwartet, dass ihnen ausgerechnet in Deutschland, ausgerechnet in einer kleinen Stadt wie Solingen amerikanische Verhältnisse begegnen würden. „In den USA wäre es nur kein Messer gewesen, sondern eine Schusswaffe.“