Solingen steht unter Schock. Auf einem Stadtfest sterben mehrere Menschen – attackiert von einem Täter mit einem Messer. Der Weg zurück in eine Normalität wird sehr mühsam sein.
Freude ist Angst gewichen. Musik und Lachen einer gedämpften Stille. Am Morgen nach dem Stadtfest von Solingen, über das nun alle sprechen, pfeift ein Wind durch eine menschenleere Fußgängerzone. Hinter einem Absperrband, bewacht von Polizisten, sieht man noch ein stillstehendes Karussell mit Bärchen-Motiven, an einer Bühne flackern immer noch Scheinwerfer. Aber niemand ist mehr da. Absolut niemand.
Solingen, eine 160.000-Einwohner-Stadt eingeklemmt zwischen Düsseldorf, Köln und Wuppertal, kämpft mühsam damit, das Geschehen zu verarbeiten, das sich am Freitagabend auf der Feier zu ihrem 650. Geburtstag ereignet hat, dem „Festival der Vielfalt“. Und mit ihr, so viel kann man wohl schon sagen, ein ganzes Land. Noch in der Nacht reist NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) an. Bundeskanzler Olaf Scholz fordert eine harte Strafe für den Täter.
Dabei kennt man zu diesem Zeitpunkt noch fast nichts zu den Hintergründen. Was man weiß: Am Freitagabend geht ein Täter bei dem Fest offenbar wahllos mit einem Messer auf Menschenlos. Drei Besucher – eine Frau und zwei Männer – sterben, mehrere werden schwer verletzt.
Wegen seines zielgerichteten Vorgehens – er habe auf den Hals der Opfer eingestochen – müsse man von einem Anschlag ausgehen, erklären die Behörden. Nach der Tat soll er im Tumult geflüchtet sein. Die Polizei rief via Facebook auf, die Solinger Innenstadt zu meiden.
Angst macht sich breit
Am Morgen danach ist noch immer vieles an der Tat unklar. Aber die Gefühlslage, die ist greifbar. „Ich habe zu meinem Mann gesagt: Wir können nicht mehr da hingehen, wo viele Menschen sind“, sagte eine ältere Frau, die seit Jahrzehnten in einem Haus direkt am Tatort wohnt. Plötzlich habe man ein Messer im Rücken. „Da musst du Angst haben“, sagt sie.
Ein Mitarbeiter eines Eiscafés fragt sie vorsichtig, ob sie etwas von der Tat mitbekommen habe. Sie verneint. Er sagt: „Besser so.“
Eine andere Anwohnerin sagt gleichsam, dass sie Angst habe. In der Nacht habe sie kein Auge zugemacht. „Polizei, Feuerwehr, Hubschrauber“, zählt sie auf. Sie selbst sei nicht auf dem Fest gewesen, obwohl sie es zeitweise vorgehabt habe. „Wir wollten. Aber wir sind froh, dass wir nicht gegangen sind.“ Vor allem verstöre sie, dass die Sicherheitsvorkehrungen offenbar nicht ausgereicht hätten. „Ich kann das nicht verstehen“, sagt sie resignierend. „Solingen ist momentan sehr oft in den Schlagzeilen.“
Diesen Satz hört man in der Stadt auffällig oft. Solingen, das immer in den Schlagzeilen sei. Und nun schon wieder. Im März waren in der Stadt bei einem Feuer vier Menschen in einer Dachgeschosswohnung gestorben. Gelegt haben soll es ein ehemaliger Mieter.
Im Juni ließ ein Mann vor einem Solinger Geschäft eine Flasche mit einer Substanz fallen lassen, wodurch es zu einer Explosion kam. Der Mann starb wenig später. Im Raum steht, dass der Fall eine Verbindung zu den Machenschaften der sogenannten niederländischen Mocro-Mafia hat, über die in NRW seit Wochen diskutiert wird.
Viele Menschen werden sich auch noch an einen nächtlichen Brandanschlag in Solingen im Jahr 1993 erinnern, bei dem fünf türkischstämmige Frauen und Mädchen von Rechtsextremisten ermordet wurden. Der Anschlag markierte damals den Tiefpunkt einer Serie rassistischer Anschläge auf Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland.
Panik statt unbeschwertes Fest
All das sollte bei der 650-Jahr-Feier eigentlich keine Rolle spielen. Solingen bemüht sich um eine positive Außendarstellung. Die „Überschaubare Großstadt zwischen den Metropolen“ (Eigenbeschreibung) nennt sich – ausgerechnet – „Die Klingenstadt Deutschlands“, weil es eine Tradition in der Herstellung von Klingen, Messern und Scheren gibt, im Mittelalter vor allem von Degen und Schwertern. In der Stadt steht auch das „Deutsche Klingenmuseum“.
Aber nicht nur Solingen wird mit den Geschehnissen irgendwie umgehen müssen, sondern auch Deutschland. Messerangriffe haben zugenommen, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte erst jüngst ein verschärftes Waffenrecht angekündigt, was die Diskussion aber nicht grundlegend beruhigte. Und in einer Woche stehen Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen an.
Wenige Schritte vom Tatort in Solingen entfernt hat jemand einen Zettel hinterlassen. Darauf ist zu lesen: „Wir vergessen Euch niemals.“