Unser Kolumnist bereist Kleinstädte in Sachsen, um herauszufinden, was die Menschen sich von ihrer Zukunft versprechen. Die Ideen sind konkret – und manchmal überraschend.
Der Kopf ist das Problem. Er fällt dauernd herunter. Ein Kind, etwa sieben Jahre alt, formt erst Arme, Beine und Torso aus Knete und fügt nacheinander die kleinen Würstchen zusammen. Nur der Kopf will nicht halten. Es ist eine etwas zu groß geratene Kugel, die auf einem dreidimensionalen Strichmännchen sitzt. Mehr Knete, etwas Spucke, und schon ist er fertig. Ein Clown. Als Symbol für einen Zirkus, der in die Stadt kommen soll.
Ich bin in der sächsischen Stadt Weißwasser. Das Kulturbüro Sachsen und meine Organisation „Demokratie in Arbeit“ richten Heimat- und Demokratiefeste in fünf sächsischen Kleinstädten aus. Überall in Kooperation mit Trägern, die seit Jahr und Tag vor Ort sind, Land und Leute kennen und um die politischen Gegebenheiten wissen.
Im Herbst vergangenen Jahres beginne ich, mir Gedanken um die anstehenden Wahlen zu machen. In Berlin wird die Bundestagswahl wiederholt, deutschlandweit wird das Europaparlament gewählt, und in vielen Bundesländern werden die Kommunalparlamente gebildet. Kaum ein Wahltag aber bewegt mich so sehr wie der 1. September 2024. Es ist der Tag, an dem in Sachsen und Thüringen der Landtag gewählt wird. Am 22. September folgt dann noch die Landtagswahl in Brandenburg.
Der immergleiche Reflex: „Der Osten ist verloren“
In allen drei Ländern ist die AfD stärkste Kraft. In Thüringen führt sie mit 30 Prozent, in Brandenburg mit 24 und in Sachsen, wo sie ebenfalls bei 30 Prozent liegt, liefert sie sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU.
In mehreren Berichten ist von „Ost-Wahlen“ die Rede, was angesichts der Abwesenheit von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt irreführt, aber einiges darüber aussagt, wie Westdeutsche den Osten wahrnehmen. Ein Kollege von der „Zeit“ schreibt auf X, Teile des Ostens seien verloren. Die üblichen Schlaumeier fordern, die Mauer wieder hochzuziehen.
Mich macht das traurig. Beides. Die Umfrageergebnisse wie die Reaktionen darauf.
Die 20 bis 30 Prozent für die AfD sind nur die Spitze des Eisbergs. Beinahe überall können sich Rechtsextreme und Neonazis ausbreiten, ohne gesellschaftliche Ausgrenzung zu erfahren. Manchmal hört man am Parkplatz des örtlichen Supermarktes aus geöffneten Autotüren Musik von Neonazi-Bands wie „Landser“. Hakenkreuze am Unterschenkel oder Oberarm gehören zum Stadtbild genauso dazu wie Klamotten der Neonazi-Marke „Thor Steinar“. Die Gewalt gegen Flüchtlinge, Ausländer und Migranten ist überall dort am höchsten, wo die AfD die größte Zustimmung erhält. Und das ist nun einmal in Ostdeutschland.
Die Berichte über „Baseballschlägerjahre“, Neonazi-Umtriebe und rechte Terrororganisationen sind zahlreich. Der NSU begann seine Reise in Jena und Zwickau, der Mörder von Walter Lübcke beschließt auf einer rechten Demo in Chemnitz, seine Tat umzusetzen. Man könnte diese Aufzählung fortführen und damit das vorgestanzte Bild vieler Deutscher über den östlichen Teil ihrer Heimat bestätigen.
Rechtsextremismus ein gesamtdeutsches Problem
Zwei Dinge aber gehen in diesen Aufzählungen unter. Zum einen, dass der Rechtsextremismus ein gesamtdeutsches Problem ist, dass es auch in Solingen, Hamburg, Lübeck und München zu folgenschweren rechtsextremen Anschlägen kam. Dass im beschaulichen Sylt junge Menschen den Hitlergruß gezeigt und „Ausländer raus!“ gegrölt haben. Dass im progressiven Bremen die städtische Wohnungsbaugesellschaft Brebau systematisch Migranten, Muslime und Schwarze am Wohnungsmarkt diskriminierte.
Zum anderen übersieht man bei diesen Aufzählungen, wie viele aufrechte Demokraten es gibt, die in ihrer ostdeutschen Heimat den rechten Rattenfängern widersprechen. Die sich für ihre Mitmenschen einsetzen, Solidarität zeigen und sich trotz aller Bedrohungslagen und Anfeindungen nicht unterkriegen lassen.
Als ich nach einer Veranstaltung in Dresden gemeinsam mit dem Kulturbüro Sachsen überlege, wie man auf die rechte Bedrohung reagieren kann, kommt uns eine Idee: ein Fest für Demokratie und Heimat. Für die Menschen vor Ort. Niedrigschwellig. Unpolitisch. Eine Geste der Solidarität und Bestärkung. Wir nennen unsere Reihe „Schöner Land. Eine gute Heimat besser machen“. Wir reisen durch Plauen, Weißwasser, Pirna, Wurzen und Zittau. Mit Musik und Poetry Slam, Essen, Trinken und einem Eiswagen. In einem moderierten Beteiligungsformat erzählen uns die Einheimischen, was sie brauchen, um ihre Heimat politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell zu gestalten.
Die Wünsche sind konkret: Radwege, Zuhörbänke, bessere Ärzteversorgung
Die Ideen und Anregungen sind konkret und detailreich. Es geht durchweg um die Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge und um die öffentliche Infrastruktur. Wir diskutieren über die Ärzteversorgung vor Ort und über den Rückkauf privatisierter Wohnimmobilien. Die Menschen erzählen uns von ihrem Wunsch nach Kulturveranstaltungen, sicheren Radwegen und Zuhörbänken zum Austausch und gegen Einsamkeit. Sie haben Ideen und Anregungen, um das Leben vor Ort erfahrbar zu verbessern. Wir sammeln alles, bereiten es auf und werden im Anschluss alle Ergebnisse an die neu gewählten Gemeinderäte übergeben und regelmäßig nachhalten.
Auch die Kinder geben uns einiges mit auf den Weg. Wir fragen sie, wie sie eine Stadt von Grund auf gestalten würden. Innerhalb weniger Minuten entstehen Parks, Seen und Spielplätze. Wir müssen zwischendurch eingreifen, damit die Zahl der Feuerwehr-Einsatzstellen nicht überhand nimmt. Ein Fluss mit dem Namen „FC Bayern Deutschland“ stürzt die umstehenden Erwachsenen in tiefe Ratlosigkeit. In Weißwasser schafft es der Clown mit befestigtem Kopf in einen gebastelten Zirkus, der dauerhaft in der Stadt bleiben wird. In Pirna bauen die Kinder ein Tierheim für die Tiere, aber auch ein Kinderheim für Kinder in Not.
Als die Band in Pirna ihre letzte Zugabe beendet und die tiefstehende Sonne alles in dieses kitschige goldene Licht eintaucht, frage ich mich, wie das eigentlich alles weitergehen soll. Es ist so ein wunderschönes Land mit sagenhaft guten Leuten. Eine gute Heimat. Wir müssen uns das vielleicht einfach nur häufiger in Erinnerung rufen.