Prozess zu Drogenhandel: Der größte Captagon-Fund, die Spur nach Syrien – und die Rolle der Terroristen

Deutschland ist ein wichtiges Transitland für die längst verbotene Droge Captagon: Nun ist in Aachen der Prozess zum bislang größten Fund gestartet. Dabei geht es auch um die Rolle des syrischen Regimes – und die Frage, wie der illegale Handel funktioniert.

Als am Mittwochmorgen der Vorsitzende Richter im Saal 20 am Landgericht Aachen vor die vier Angeklagten tritt und den Prozess eröffnet, blicken nicht nur die Angehörigen auf den Zuschauerbänken gespannt auf das, was in den kommenden Wochen folgen wird. 

Während aber für die Familienmitglieder nur das Strafmaß von bis zu 15 Jahren von Bedeutung sein dürfte, geht es Ermittlern in ganz Deutschland um etwas anderes. Womöglich, so die vorsichtige Hoffnung, könnte der Prozess Licht ins Dunkel des internationalen Captagon-Handels bringen. 

Was steckt hinter dem System Captagon?

Denn hinter dem schnöde klingenden Tatvorwurf „Bandenmäßiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge“ steht ein spektakulärer Fund und ein noch viel spektakulärerer Hintergrund. 

Das System Captagon und die Rolle Deutschlands darin. Ein Milliardengeschäft, das dem syrischen Regime um den Diktatur Baschar al-Assad die Taschen vollmacht und immer häufiger über deutschen Boden abgewickelt wird. 

Ermittler stehen noch völlig am Anfang

Doch bislang stehen die Ermittler in Deutschland ziemlich am Anfang. Die genauen Hintergründe des Drogenhandels sind weitestgehend unklar. In den wenigen bislang verhandelten Gerichtsfällen bekam man nur die kleinsten Fische dran. Parallel floriert der Handel mit Captagon immer mehr. Ein internationaler Report von Sicherheitsbehörden, unter anderem unter Beteiligung des Bundeskriminalamts, spricht von einem Handelsvolumen, das „außergewöhnlich hoch“ und von geopolitischer Bedeutung sei.

Es ist mitten im Herbst, Anfang Oktober 2023, als der Zugriff erfolgt. Ermittler durchsuchen in Würselen bei Aachen auf einem Industriegelände Garagen, die man anmieten kann, wenn man sehr viel Krempel zu verstauen hat. Oder hunderte Kilogramm Drogen. Zuvor haben sie die heute Angeklagten bereits länger observiert. Immer wieder konnten Drogensendungen von ihnen an Flughäfen abgefangen werden. Das Captagon sollte nach Saudi-Arabien, Katar, Bahrain aber auch Australien gehen.

Sichergestellte Captagon-Tabletten in einem Sack
© Zollfahndung Essen/dpa

Als die Ermittler dann im Lager der Männer stehen und die Paletten durchsuchen, stoßen sie auf nicht weniger als den größten Captagon-Fund, den es bislang auf deutschem Boden gegeben hat. Insgesamt 480 Kilogramm stellen sie sicher, das sind rund 3,2 Millionen der verbotenen Tabletten. 

Captagon wurde in Deutschland erfunden

Captagon ist eine deutsche Erfindung aus den 1960ern, heute kaum noch geläufig und seit Jahrzehnten verboten. Bekanntheit in der westlichen Welt erlangte Captagon zuletzt wieder unter dem Schlagwort „Dschihadisten-Droge“, weil IS-Kämpfer sich damit aufgeputscht haben sollen. 

Die Tablette, die ursprünglich gegen ADHS helfen sollte, enthält Amphetamin, macht euphorisch, wach und steigert die Leistungsfähigkeit. Außerdem macht sie süchtig und kann schwere Nebenwirkungen wie Depressionen und Angstzustände hervorrufen. Während Captagon in Deutschland nahezu nicht konsumiert wird, überschwemmt es in den vergangenen Jahren die arabische Welt und dort vor allem Saudi-Arabien.

Hinter dem internationalen Captagon-Handel steckt Syrien und Assad

Dabei profitiert einer ganz besonders davon: Baschar al-Assad und sein diktatorisches Regime. In den vergangenen zehn Jahren hat sich Syrien zum Hauptproduzenten der Droge entwickelt und zu einem industriellen Business hochgezogen. „Fest steht, dass das Captagon-Business zu einem, wenn nicht sogar dem wichtigsten Geschäftsfeld in Syrien geworden ist“, so der Islamwissenschaftler Casper Schliephack, der im vergangenen Jahr einen ausführlichen Report zu Captagon veröffentlicht hat. 

Auch die EU und die USA kommen zur gleichen Einschätzung. Schätzungen gehen davon aus, dass der Captagon-Handel des syrischen Regimes ein Volumen von 5 bis 16 Milliarden US-Dollar im Jahr erzielt. Auch hochrangige Vertreter der libanesischen Hisbollah, die eng mit Assad verbündet ist, sollen in den Handel involviert sein. 

Auch wenn sich in Deutschland kaum Konsumenten finden, wird das Land immer interessanter für Drogenschmuggler. Das BKA erfasste für 2021 noch Captagon-Funde von 464 Kilogramm, zwei Jahre später waren es bereits 720 Kilogramm – und die Dunkelziffer dürfte laut Experten um ein Vielfaches höher liegen. 

Deutschland wird immer mehr zum Transitland für den Captagon-Handel

Für Captagon-Händler ist es sicherer, die Ware von Syrien oder dem Libanon über europäische Länder wieder in die arabische Welt einzuführen. Container aus Deutschland erwecken in den Zielländern weniger Verdacht. Seitdem die Türkei stärker gegen den Captagon-Schmuggel vorgeht und einen Captagon-Fund nach dem nächsten vermeldet, werden Länder wie Deutschland als Transitland noch attraktiver. 

So ist es vermutlich auch im Aachener Fall abgelaufen. Das Problem: Ermittler können bislang nicht nachweisen, woher die Drogen genau kamen, wo sie hergestellt wurden, wie genau sie nach Deutschland gelangten, schlicht: wie das System abläuft. Weder in Aachen noch in wenigen vergleichbaren Fällen, die bisher in Deutschland verhandelt wurden. 

Mutmaßlicher Kopf der Bande schweigt

Einer, der es vielleicht wissen könnte, gibt sich am Mittwochmorgen schweigsam. Khaled M. ist der älteste der vier syrischen Angeklagten, die zwischen 33 und 46 Jahre alt sind. Er soll der Kopf der Bande gewesen sein. Er trägt ein grünes T-Shirt, die Schläfen sind leicht ergraut, und sein Anwalt teilt mit, dass er sich erst einmal nicht zu den Vorwürfen äußern werde. 

Doch selbst wenn sich die Vorwürfe erhärten, dass er der Kopf der Bande gewesen ist, ist es abwegig, dass es keine weiteren Beteiligten gab, die in Aachen nicht auf der Anklagebank sitzen.

In Syrien zum Beispiel verlässt kein Container einen Hafen, ohne dass das Regime ein Auge auf ihn hat. Die vierte Division des syrischen Heeres, die dem jüngeren Bruder von Assad untersteht, überwacht sämtlichen Containerverkehr und fordert für jeden Container mit illegaler Zuladung 360.000 US-Dollar, damit er passieren kann. 

Anders als Khaled M., der zunächst nicht aussagen will, ist Mohammad K. zu einem Geständnis bereit, das er in den kommenden Wochen ablegen wird. Er hat schon vor Anklageerhebung mit den Ermittlern kooperiert und gibt sich als unwissender Handlanger. „Mein Mandant war überrascht über den Umfang des Handels. Er war deutlich größer, als er dachte. Auch die internationalen Verquickungen waren ihm bis zur Anklageerhebung nicht bewusst“, sagt Anwalt Björn Hühne, der ihn vertritt. Von Hintermännern und anderen Tätern neben den anderen Angeklagten habe Mohammad K. nichts mitbekommen. Er wird sich die kommenden Prozesstage aber genauer dazu äußern, wie der Schmuggel abgelaufen ist. 

Bande versteckte Captagon in Bulgur, Kerzen und Heizungen

Die Bande war offenbar kreativ, versteckte die Captagon-Tabletten in Duftkerzen, in einem Elektrokamin oder auch Bulgur. Doch anders als in anderen publik gewordenen Fällen wählten sie nicht den Schiffsweg für ihre Sendungen, sondern verschickten die illegale Ware per Flugzeug. Gleich mehrfach fiel das bei Kontrollen auf, so kamen die Ermittler den Männern schließlich auch auf die Schliche. 

EU-Bericht: Markt für illegale Drogen in Europa so groß wie nie zuvor 14.20

Immerhin sorgt die Staatsanwaltschaft an diesem kurzen ersten Prozesstag noch für eine Überraschung. Man gehe fortan nicht mehr von 480 Kilogramm Captagon aus, sondern von über einer Tonne, die gehandelt wurde. Das hätten Hochrechnungen ergeben, so die Staatsanwältin. Ob das so haltbar ist, soll ein Gutachten zeigen. Oder eben die Zeugenaussage von einem der Angeklagten, wenn denn einer möchte. 

Der größte Captagon-Fund Deutschlands, er könnte noch viel größer sein als bislang angenommen. 

Doch die wichtigste Frage, die nach den Hintermännern und woher die Drogen stammten, bleibt am Mittwoch erst einmal ungeklärt. Aber immerhin: Es bleiben noch 14 Verhandlungstage.