Buch: „Komm doch mal“: „Es gilt als normal, dass viele Frauen keinen Orgasmus bekommen. Das ist es nicht“

Jahrelang hatte die Schauspielerin der Netflix-Serie „Dirty Lines“ Joy Delima schlechten Sex. Was ihr dann half: kuscheln, professionelle Massagen – und Enthaltsamkeit.

Joy Delima hatte lange keinen Spaß an Sex, weil sie dabei nie zum Orgasmus kam. Dabei ist die Schauspielerin so etwas wie die „Sex and the City“-Darstellerin Carrie Bradshaw von Amsterdam: Die 29-Jährige schreibt eine Kolumne für die Zeitung „de Volkskrant“, in der es um Dating und Sex geht. Über ihre Suche nach dem Orgasmus hat sie ein Buch geschrieben: „Komm doch mal“.

Frau Delima, mit 20 war Ihre größte Angst, nie einen Orgasmus haben zu können.
Wenn ich heute daran zurückdenke, fühlt es sich seltsam an, dass ich mich dafür so geschämt habe. Ich dachte, es wäre mein Fehler und dass mit meinem Körper etwas nicht stimmt. Ich dachte: Alle um mich herum konnten natürlich Orgasmen haben, nur ich nicht. Hätte ich nur gewusst, was ich jetzt weiß!

Sie schrieben damals einen Monolog über Ihre Angst und führten ihn vor Publikum auf. Auch vor Ihren Eltern. Wie kam es dazu?
Ich absolvierte gerade einen Vorkurs für meinen Bachelor. Für das Abschlussstück gab uns der Regisseur den Auftrag, über unsere größte Angst zu schreiben. Danach wussten plötzlich all diese fremden Menschen von meinem Problem. 

Zur Person Joy Delima

Wie reagierte das Publikum?
Viele Menschen kamen zu mir und sagten: Ich kenne das auch. Oder: Meiner Freundin geht es genauso. Ich merkte, dass da ein Tabu ist: Es gilt als normal, dass viele Frauen keinen Orgasmus bekommen. Das ist es nicht.

Sie sind 1994 geboren und in einer aufgeklärten Generation aufgewachsen. Warum haben Sie trotzdem nicht offen mit Ihren Freundinnen über Ihr Problem gesprochen?
Man braucht Wissen für die Kommunikation. Das Problem beginnt schon in der Schule: Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in Holland wird einem nur beigebracht, was Angst macht. Es geht um Geschlechtskrankheiten oder Schwangerschaften. Ich war als Schülerin in einer Arbeitsgruppe mit dem Namen „STOP AIDS NOW“. Da war eine Dame zu Besuch, die beim ersten Mal Aids bekommen hatte. Wir waren geschockt: Oh Gott, das kann passieren?

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Man hat im Leben vielleicht zweimal Sex, um Kinder zu bekommen, manche sogar nie. Trotzdem lernen wir in der Schule nur etwas über diese beiden Male. Wir lernen, wie der Penis biologisch funktioniert, aber nichts über die Anatomie der Klitoris oder über Einvernehmlichkeit. 

Als Sie noch ein Kind waren, zirkulierte in einem sozialen Netzwerk Ihres Rotterdamer Viertels eine Liste mit den Namen von Mädchen, die leicht zu haben seien. Ihr Name stand darauf. 
Das war die Banga-Liste. „Banga“ ist ein holländischer Slang-Begriff für Prostituierte. Ich war 14 und hatte noch nie Sex gehabt – aber das hätte mir keiner geglaubt. Ich fühlte mich hilflos und allein. Ich konnte zu Hause nicht davon erzählen, weil ich Angst hatte, dass meine Eltern wütend in die Schule gehen. Ich dachte, mein Leben wäre vorbei. Eine Woche später stand ein anderes Mädchen auf der Liste, und ich war vergessen.

Wie überwanden Sie ihre Angst, niemals beim Sex einen Orgasmus zu haben?
Ich verstand, dass es auch anderen so geht und meine Angst normal ist. Ich wusste aber erst einmal nicht, was ich dagegen tun kann. Ich hatte also mehrere Beziehungen, in denen ich sexuell keinen Spaß hatte. Vor sechseinhalb Jahren endete die letzte. 

Und danach?
Musste ich lernen, allein zu sein und mir selbst zu geben, was ich in Partnern gesucht hatte.

Wie denn?
Ich kaufte einen Vibrator. Das Problem an Technik ist: Viele Frauen kommen dadurch sehr schnell. Aber sie lernen sich trotzdem nicht so gut kennen, als wenn sie ihre Hände benutzen würden. Ich lernte also meinen Körper kennen. Und ich verstand: Ich muss mich sicher fühlen und verliebt sein, um Freude an Sex zu haben. Das hat meine Perspektive verändert. Danach hatte ich jahrelang gar keinen Sex mit anderen. 

Warum?
Ich habe entschieden, nur mit jemandem Sex zu haben, mit dem ich eine tiefe Verbindung spüre und der ein Langzeit-Partner sein könnte. Das passiert nicht nach ein paar gemeinsam verbrachten Abenden. Und ich habe Sex nicht vermisst. Ich hatte ja ein Sexleben mit mir selbst.

„Komm doch mal“ von Joy Delima, Aufbau, 191 Seiten, 20 Euro

Was ich vermisst habe, war Intimität, also körperliche Nähe, oder jemandem von meinem Tag zu erzählen. Ich fragte also meine beste Freundin, ob wir kuscheln können, wenn wir einen Film schauten. Oder ich buchte mir eine – professionelle – Massage. Und plötzlich war das Bedürfnis nach Sexualität verschwunden. Heute kann ich mir nicht mehr vorstellen, warum mir beiläufiger Sex mal Spaß gemacht hat. Ich freue mich darauf, das wieder zu haben – mit jemandem, dem ich vertraue und den ich liebe.

„Du musst keinen Orgasmus haben – aber du verdienst einen“ 

Von Pohaaaren bis Hefepilzinfektiionen schreiben Sie im Buch sehr schamlos über Körper und Sexualität. Zögern Sie manchmal, ob Sie so offen sein sollten? 
An den Enden meiner Kolumne im „de Volkskrant“ steht eine E-Mail-Adresse, damit die Menschen mit mir in Kontakt kommen können. Immer, wenn ich mich ein bisschen mehr aus meiner Komfortzone bewegte, dachte ich: Oje, diesmal wird es weird. Aber immer bekam ich danach Nachrichten wie: „Danke, dass du darüber sprichst, mir geht es genauso.“ Je persönlicher ich schrieb, desto universeller wurde die Geschichte. Alles, was mich klein, seltsam und eklig fühlen ließ, kennen andere auch. Es war dann nicht mehr nur meine Scham, sondern unsere. Wir gehen alle durch dieselben Ängste.

Sie sind Schauspielerin. Die Darstellung weiblicher Sexualität im Film ist oft unrealistisch. Mussten Sie am Set jemals widersprechen?
Ja, ein in Problem ist die Zeit. Es fühlt sich immer so schnell an, bis die Figuren zum Höhepunkt kommen. In manchen Szenen fasst er ihr Bein an, und sie kommt in zehn Sekunden. Dann sage ich: Nein, das will ich der Welt so nicht zeigen, junge Menschen sehen das und glauben, das funktioniert. Leider kann man keine 30-minütigen Sexszenen drehen.

Aber Regisseure, mit denen ich arbeite, wissen schon, dass ich auf dieses Thema achte. Bei meinen Netflix-Serien war ein Intimitätskoordinator dabei. Mit der Regisseurin und Drehbuchautorin haben wir viel Zeit und Aufwand in die Sexszenen gesteckt.

Was würden Sie Ihrem früheren Ich heute mitgeben, der 20-Jährigen, die den Monolog hielt?
Pornografie ist Unterhaltung, nicht die Wirklichkeit. Frag deine Partner immer, ob sie den Sex auch wollen, denn es ist wichtig, dass sie sich sicher fühlen. Und du musst wissen, was du magst, damit du es anderen zeigen kannst. Dazu zählt der ganze Körper. Wie fühlt es sich zum Beispiel an, mein Knie zu berühren? Und was den Orgasmus betrifft: Du musst keinen Orgasmus haben – aber du verdienst einen.