Bei der Beratung von Opfern sexualisierter Gewalt standen lange Frauen und Mädchen im Fokus. Aber auch Jungen und Männer zählen zu den Betroffenen. Für sie gibt es neue Anlaufpunkte in Hessen.
Für männliche Betroffene von sexualisierter Gewalt gibt es deutlich weniger Beratungsangebote als für Mädchen und Frauen. Hessen will diese Lücke schließen – vor wenigen Monaten wurden bei einer „Kick-Off“-Veranstaltung vier neue Anlaufstellen in Wiesbaden, Gießen, Darmstadt und Kassel vorgestellt. Die Beratungsstellen haben sich mit staatlicher Förderung auch für Männer und Jungen geöffnet, die in ihrer Kindheit oder Jugend von sexualisierter Gewalt betroffen sind oder waren. Das Angebot werde angenommen, sagt Johannes Höing von der Landeskoordinierungsstelle der Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend.
„Die meisten Beratungsstellen gegen sexualisierte Gewalt sind aus der Frauenbewegung heraus entstanden. Ursprünglich konzentrierten sich die allermeisten auf Frauen und Mädchen als Opfer“, erläutert Höing. „Es gibt generell kaum Angebote für männliche Betroffene.“ Dabei wäre durchaus Bedarf da. Nach Angaben des Paritätischen erfährt laut Studien etwa jede zehnte männliche Person in ihrem Leben sexualisierte Gewalt. Verlässliche Zahlen fehlten allerdings, wie bei den Frauen gebe es ein großes Dunkelfeld.
Opfer berichten von Ohnmachtserfahrungen und Kontrollverlust
„Das Thema ist bei Männern noch stärker tabuisiert als bei Frauen – quasi ein Tabu im Tabu“, sagt Höing. „Die meisten Dinge, mit denen Betroffene zu kämpfen haben, sind unabhängig vom Geschlecht. Das sind ganz starke Ohnmachtserfahrungen, ein ganz starker Kontrollverlust.“ Für Männer widerspreche es zudem dem gängigen gesellschaftlichen Bild, Opfer zu werden. „Sexualisierte Gewalt fängt da an, wo individuelle Grenzen überschritten werden“, erklärt Höing. Die Taten seien immer eine Form der Machtausübung.
Die Betroffenen-Beratungsstelle Wildwasser Gießen öffnete 2023 ihr Angebot für Männer, wie Leiterin Barbara Behnen berichtet. Inzwischen würden zehn Betroffene betreut, es gibt auch eine Männergruppe. „Das Angebot wird angenommen“, sagt Behnen. Die Männer treibe unter anderem die Befürchtung um, auch Täter zu werden, weil ihnen etwa aus Filmen suggeriert werde, dass angeblich Opfer zu Tätern würden. Wenn die Beraterin erkläre, dass dies keineswegs so ist, bedeute dies oft eine Erleichterung.
Sexualisierte Gewalt ist kein „dummes Zeug“ machen
Nach der Einschätzung von Behnen gibt es keine substanziellen Unterschiede bei der Beratung von Männern und Frauen. Allerdings sei es für Männer oft ungewohnt, über ihre Gefühle zu sprechen. Für sie sei es oft sehr schwierig, zu sagen „Ich bin Opfer geworden“ und nicht beispielsweise „Ich habe mit meinem Onkel dummes Zeug gemacht“, berichtet die Expertin. Zudem müsse Männern oft klargemacht werden: „Wenn ich Opfer geworden bin heißt das nicht, dass sich jetzt kein Mann mehr bin.“
Nach den Erfahrungen von Behnen werden jugendliche Jungs im Alter zwischen 12 und 20 als Opfer sexualisierter Gewalt oft nicht ausreichend wahrgenommen. Sie kenne einen Fall von einem Verhältnis zwischen einer Lehrerin und einem Jugendlichen – bei dem der Junge Beschuldigungen ausgesetzt gewesen sei. Für Behnen „eine völlige Verdrehung der Tatsachen“. Für jugendliche Jungs sei es auch noch schwieriger zu sagen: „Leute, ich habe schlechte Erfahrungen gemacht.“
Auch die Geschäftsführerin von Wildwasser Wiesbaden, Anika Nagel, spricht von einem „doppelten Tabu“ – und meint damit sexualisierte Gewalt und männliche Betroffenheit. Männer täten sich schwerer damit, Hilfen in Anspruch zu nehmen, weil es nach wie vor unter anderem das geschlechterspezifische Stereotyp gebe, dass Jungen sich selbst wehren. Aber ein Kind könne sich niemals aus eigener Kraft aus sexualisierter Gewalt befreien, sagt Nagel.
„Bin ich jetzt schwul?“
Da bei vielen männlichen Opfern die Täter Männer seien, gebe es bei den Beratungen die Frage der männlichen Betroffenen „Bin ich jetzt schwul, weil mir das passiert ist?“ – dies spiele eine große Rolle. Opfer berichteten zudem von der Sorge, dass sie von ihrer Umgebung als mögliche Täter gesehen werden könnten, wie Nagel sagt. Ein Vater habe die Befürchtung geäußert, dass andere Familien ihre Kinder nicht mehr zum Spielen schicken – würde er davon berichten, Opfer sexualisierter Gewalt geworden zu sein.
Doppeltabu wird mit Öffentlichkeitsarbeit begegnet
Viele Klienten erzählten von ihrer langen Suche nach Hilfe als betroffener Mann, ergänzt Julius Wolf von Fax Fachberatungsstelle in Kassel. Das Beratungsangebot für erwachsene Männer steige stetig an: Im Jahr 2023 wurden fünf betroffene Männer beraten, in diesem Jahr sind es bislang 13 Männer. „Dabei ist die Anzahl der Beratungssitzungen sehr unterschiedlich von einmalig bis über zehn Sitzungen, erläutert Wolf. Dem Doppeltabu von sexueller Gewalt einerseits und „Männer sind keine Opfer“ andererseits begegne seine Beratungsstelle mit aktiver Öffentlichkeitsarbeit. Die vierte neue Anlaufstelle für männliche Betroffene ist Haltepunkt Darmstadt der Organisation pro familia.