Lehren aus der Pandemie: Corona-Aufarbeitung? Dann aber richtig und ohne paranoiden Quatsch!

Die jüngste Corona-Welle ebbt gerade ab. Die Narben der Pandemie bleiben: Sie hat die Jüngeren unfair geschädigt. Reden wir darüber statt über den öden Verschwörungs-Nonsens!

Jede Krise bietet Chancen. Das gilt auch für die Corona-Pandemie. Gemeint sind hier nicht die Profite der Masken-Wucherer. Gemeint ist nicht die unverhoffte Prominenz zahlreicher Wissenschaftler und unzähliger Verschwörungstheoretiker. Es geht um Chancen zum Fortschritt, die wir nutzen müssten, aber gerade gemeinsam verspielen. Wir regen uns auf, polemisieren und bohren doch nicht die dicken Bretter, von denen es viele gibt. Ist das schon digitale Demenz oder bloß einfache Gleichgültigkeit?

Eines der dicksten Bretter ist unsere liederliche Vorbereitung auf ein neuerliches „Jahrhundert-Ereignis“ dieser Art (hoffentlich dauert es tatsächlich so lang!). Auf die nächste Pandemie also. Wenn es wieder so weit kommt, sollten wir wirklich wissen, was wir wollen. Pläne existierten schließlich auch 2020 schon auf dem Papier. Aber die Praxis fehlte, die Erfahrung, ebenso wie Gedanken zur Sicherung des Wohls aller Bevölkerungsgruppen. Jetzt haben wir alle Erfahrungswissen dazu. Doch die Vorsorge für die Zukunft wird schon wieder nicht ernst genommen. Hassen wir es, zu lernen? Leben wir nur noch für die Geschwätzigkeit des Augenblicks?

In den Nachrichten sind unterdessen allerlei merkwürdige Viren aufgetaucht: Affenpocken, Nipah, Oropouche, meist eher im Infotainment-Stil. Keines wurde pandemisch (die Vogelgrippe hat indes ernste Chancen). Fast könnte man glauben, die stete Gefahr einer Seuche in der globalisierten Welt sei bereits wieder verdrängt. Forderungen nach einer wirklichen Aufarbeitung der Corona-Zeit sind deshalb unbedingt berechtigt. Doch in der Alltagskommunikation wiederholen sich die hinderlichen Muster degenerierter Debattenkultur wie der tägliche Gruß des Murmeltiers: Klamauk, Nebelkerzen und politische Ablenkungsmanöver. Das Sommertheater um die „RKI-Protokolle“ ist eine alberne Scharade. Pseudo-Enthüller konstruieren aus allenfalls verwaltungsgeschichtlich interessanten Akten einen Skandal, der bloß die tieferen Probleme vernebelt. Einfältige werden zu ihren betuppten, aber oft enthusiastischen Claqueuren.

Corona-Datenlage: Aktuell gute Nachrichten

Die wirklichen Herausforderungen liegen tiefer und erfordern mehr Anstrengung. Warum also nicht jetzt die Ärmel hochkrempeln? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erscheinen Bedrohungen durch das Virus kaum akut. Seit der Kalenderwoche 31, die am 4. August endete, stagniert die Corona-Welle. Arztbesuche wegen Atemwegserkrankungen sind laut RKI-Wochenbericht rückläufig, und die in der Abwasser-Überwachung nachgewiesene Viruslast ist stabil. Das Virus ist präsent, verursacht weiterhin Long Covid, und Impfungen sind für viele von uns nach wie vor ratsam. Doch Covid-19 machte zuletzt nur noch 19 Prozent der Atemwegserkrankungen aus. Die Omikron-Variante dominiert erneut völlig und führt selten zu schweren Verläufen. In der Intensivmedizin herrscht wieder Alltag.

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Doch würde Sie diese einstweilige Entwarnung trösten, wenn Sie auf dem Höhepunkt der Krise 14 oder 15 Jahre alt waren, unfreiwillig umgezogen sind und seither ohne Freunde? Acht Monate lang depressiv (durchschnittliche Erkrankungsdauer unter Jugendlichen), aber ohne Therapieplatz? Die Neuerkrankungen bei Fünf- bis Siebzehnjährigen nahmen bei Depression um acht Prozent zu, möglicherweise obendrein noch pandemiebedingt unterdiagnostiziert. Deutliches Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen stieg um elf Prozent in der Häufigkeit. 

Krass war auch die Unterversorgung bei Angststörungen und die Verschlechterung der sozialen Lage von Kindern aus einkommensschwachen Familien. Praktikumsplätze verschwanden, Sportvereine stürzten in die Krise. Weltweit zeigten Menschen unter 25 die höchsten Werte für Einsamkeit, einem enormen Risikofaktor für alle Dimensionen der Gesundheit.

Reden wir über Aufarbeitung wie mündige Bürger!

Alarmiert uns das? Interessiert uns eine sozialere Politik für jüngere Menschen? Fordern wir eine echte Modernisierung der Schulen? Nein! Stattdessen paranoider Quatsch für imaginäre Untersuchungsausschüsse und die fortschrittstötende Fetischpolitik der ultraorthodoxen Schuldenbremsler. Empathie wird tunlichst vermieden, stattdessen gibt es oberflächliche Erregungs-Zündeleien und C-Promi-Gesabbel über angeblichen Fleißmangel der Generation Z. Einige 50-Jährige glauben ernsthaft, sie hätten „das Land aufgebaut“ und philosophieren auf Facebook noch immer mit hochrotem Kopf über chinesische Biotechnologie-Labore.

So sieht moralische Dekadenz aus. So lernen wir nichts, und das nächste Desaster könnte ein Klon des letzten werden.

Dankenswerterweise gibt es Menschen, die deswegen nicht aufgeben und wirklich wichtiges Wissen erschaffen. Am vergangenen Sonntag etwa veröffentlichten Forschende um die Australierin Megan Lim eine große internationale Studie dazu, wie unter Pandemie-Bedingungen soziale Kontakte gelingen können. Sie fanden heraus, dass junge Menschen während der Seuchenzeit zusätzliche Zeit in starke Beziehungen investierten. Schwächere Verbindungen litten jedoch, und das ist alarmierend, weil es genau das bedroht, was wir unser soziales Netz nennen. Die vielen Bekanntschaften, auf die es ankommt, wenn man einmal Hilfe bei speziellen Problemen braucht, Vermittlung von Jobs und Möglichkeiten, Anregung und Ideen. Gerade Jüngere können ohne dieses Netz nicht gedeihen.

Mittlerweile wird erkannt, dass Schulschließungen – so weit wie möglich – vermieden werden sollten. Verantwortliche räumen ein: Es hätte so nicht laufen sollen. Aber das reicht nicht im Ansatz aus. Nachhaltige Investitionen im Bildungssektor sind nötig. Doch stattdessen wird über Handy-Verbote auf Schulgeländen debattiert, moralisiert und trivialisiert.

Jede Krise bietet Chancen, aber wir verspielen gerade eine sehr profunde. Wir brauchen, überspitzt gesagt, eine strukturierte Debatte darüber, wie unsere Traum-Pandemie aussehen müsste. Konstruktiv, mit viel Empathie und so wenig Bullshit wie möglich. Denn Corona war gewiss nicht unsere letzte Bewährungsprobe.