Manchmal wünscht man sich in einer Beziehung, die Gedanken des anderen lesen zu können. Julia Peirano weiß, wie sich das anders lösen lässt: in der Psychologie nennt sich das „Auftragsklärung“.
Liebe Frau Peirano,
ich (30, Grafikdesigner) wohne seit einem Jahr mit meiner Freundin (Studentin) zusammen. Im Großen und Ganzen läuft es gut, aber ein Problem ist ihre Erwartungshaltung. Sie hat immer mal wieder schlechte Stimmung, fühlt sich mit ihrem Leben überfordert (Masterarbeit, Job, tägliche Aufgaben) und zeigt das dann. Sie spricht aber nicht direkt an, was los ist, sondern seufzt, hat diesen bestimmten Blick und Tonfall.
Ich fühle mich davon getriggert und biete ihr meine Hilfe an, aber es ist irgendwie nie das Richtige dabei. Wenn ich zum Beispiel frage, ob ich für sie irgendwelche Möbel aufbauen soll, Ordnung schaffe oder etwas korrekturlese, zuckt sie nur mit den Schultern.
Ich habe dann ein richtig schlechtes Gewissen (das kenne ich von meiner Mutter, der man es auch nie recht machen konnte) und weiß nichts mit mir anzufangen. Meistens schleiche ich dann um meine Freundin herum und bringe ihr Kaffee oder Essen, und oft endet das dann in ganz mieser Stimmung zwischen uns oder im Streit. Wenn sie mir vorwirft, dass ich ihr nicht helfe (oder indirekter sagt, dass ihr nie jemand hilft), weiß ich zwar, dass das nicht stimmt, aber ich fühle mich doch schuldig.
Wie kann ich mich besser abgrenzen? Oder wie kann ich uns beiden gerecht werden?
Viele Grüße
Andrè U.
Lieber Andrè U.,
es hört sich so an, als wenn bei Ihnen alte Muster und Verletzungen reaktiviert werden. Sie haben anscheinend mit Ihrer Mutter die Erfahrung gemacht, dass es ihr schlecht ging oder sie Hilfe brauchte, aber sie hat Ihnen nicht die Chance gegeben, ihr zu helfen. Kinder haben den Impuls, den Menschen, die sie lieben, zu helfen und sich nützlich zu machen: Kleine Kinder fegen gerne mit ihren kleinen Besen die Küche oder suchen die „richtigen“ Nudeln im Supermarkt aus, und das gibt Ihnen ein positives Gefühl. „Ich habe etwas Gutes getan, ich kann helfen, ich bin Teil des Teams.“
Wenn die Mutter oder der Vater allerdings keine Hilfe annimmt oder unklare Anweisungen gibt, die das Kind nicht erfüllen kann (z.B. ich wünschte, du wärest schon erwachsen und würdest mir nicht mehr auf der Tasche liegen), dann erlebt das Kind eine sogenannte „erlernte Hilflosigkeit“. Das führt zu Gefühlen der Ohnmacht, zu Schuldgefühlen, Verwirrung und dem Gedanken, anderen zur Last zu fallen. Das ist oft der Fall, wenn die Eltern oder ein Elternteil unlösbare Probleme haben wie eine Alkoholsucht, Geldsorgen, Ehekonflikte …
Dieses Thema scheinen Sie aus Ihrer Kindheit mit in Ihre aktuelle Beziehung gebracht zu haben, und Ihre Freundin triggert wieder diese erlernte Hilflosigkeit, die Sie bereits aus Ihrer Kindheit kennen. Ich würde Ihnen zum Einen raten, mit Ihrer Freundin darüber zu sprechen, dass Sie an diesem Punkt eine alte Verletzung haben und deshalb empfindlich sind. Zum Anderen würde ich Ihnen empfehlen, sich immer wieder zu sagen, dass Sie und Ihre Freundin beide erwachsen sind und deshalb auf Augenhöhe miteinander umgehen sollten.
Auch aus dem Verhalten Ihrer Freundin meine ich kindliche Erwartungen und Verhaltensmuster herauszuhören. Sie scheint sich öfter hilflos und überfordert zu fühlen mit den Anforderungen ihres Lebens und sie weiß anscheinend nicht genau, was ihr helfen würde und was sie von anderen (insbesondere von Ihnen) erwarten kann. Da sie das nicht klar äußert, müssen Sie raten und überschlagen sich mit Vorschlägen und Hilfsangeboten, die aber nicht das Richtige sind. Vielleicht entsteht durch Ihre Einmischung auch eine Beziehungsdynamik zwischen Ihnen beiden, in der Ihre Freundin sich genervt fühlt („Kann ich nicht einfach mal in Ruhe gelassen werden und schlechte Stimmung haben, ohne dass sich einer einmischt?“). Möglicherweise fühlt sich Ihre Freundin auch schuldig im Sinne von: „Ich weiß, dass ich gerade unausstehlich bin und Andrè auf den Keks gehe, aber wenn er so lieb zu mir ist, fühle ich mich noch schlechter.“
Aufgrund der Idee, dass Sie beide erwachsen sind, würde ich Ihnen vorschlagen, das zu tun, was wir Therapeut:innen eine „Auftragsklärung“ nennen. Sie finden heraus, ob und wie Sie behilflich sein können. Ich habe mich als Berufsanfängerin oft mit PatientInnen in die Wolle gekriegt, weil ich etwas erreichen wollte, was diese gar nicht erreichen wollten. Bis ich die Zauberformel gelernt habe: „Welche Hilfe brauchen Sie von mir?“ Manchmal wollten die PatientInnen sich einfach nur einmal in Ruhe über irgendein Thema beklagen und ich sollte nur zuhören. Gut zu wissen! Oder sie wollten etwas ganz anderes, als ich im Sinn hatte. Und kaum hatten wir das geklärt, hatten wir uns schon nicht mehr in der Wolle (und ich konnte mich manchmal einfach etwas zurücklehnen).
Mein konkreter Vorschlag: Wenn Ihre Freundin das nächste Mal in einer dieser Stimmungen ist, die Sie beschrieben haben, könnten Sie zu ihr sagen: „Ich merke, dass dich irgendetwas stört. Was brauchst du gerade von mir? Soll ich dir zuhören, dich in den Arm nehmen oder dir praktisch helfen (zum Beispiel dein Regal aufbauen?).“ Und dann hören Sie ganz genau zu, was Ihre Freundin sagt und wiederholen innerlich das Mantra: „Sie ist erwachsen, es ist IHRE Verantwortung, ob sie sich Hilfe holt oder nicht.“
Wenn Ihre Freundin konkrete Hilfe braucht, klären Sie für sich, ob sie das gerade hinkriegen oder ein anderer Zeitpunkt dafür besser wäre.
Und jetzt kommt der schwierige Teil: Wenn Ihre Freundin Ihnen keinen Auftrag gibt, ziehen Sie sich zurück und beruhigen sich. Ich kenne das von Katzen: Wenn es zu Hause Stress gibt, geht die Katze gerne einmal an einen Ort, an dem sie sich beruhigen kann (schläft in einem ruhigen Raum, putzt sich oder checkt ihr Revier). Aber sie mischt sich nicht in Stress und schlechte Stimmung ein!
Sie könnten sich das erleichtern, indem Sie sagen: „Gut, dann gehe ich mal an meinen Schreibtisch / zum Sport / zur Arbeit. Ruf mich gerne, wenn dir einfällt, wie ich dir helfen kann.“ An der Stelle würde ich Ihnen raten, innezuhalten und Ihre Gefühle wahrzunehmen. Sind Sie aufgeregt? Fühlen Sie sich schuldig? Sind Sie im Zwiespalt, ob Sie richtig gehandelt haben? Nehmen Sie das doch einmal wahr und akzeptieren Sie es genau so, wie es sich anfühlt.
Es schafft langfristig Klarheit und innere Stärke, wenn wir uns an unseren Werten orientieren und nicht an unseren Gefühlen. Ihre Gefühle schwanken, und das ist auch normal. Ich hatte heute schon 30 verschiedene Gefühle und werde bestimmt noch weitere 50 haben. Manche davon sind hilfreich, manche nicht. Aber wenn Sie sich an Ihren Werten orientieren und sich sagen, dass Sie auf Augenhöhe mit Ihrer Freundin umgehen möchten, dass Sie ihr helfen möchten, aber dazu wissen wollen, womit sie ihr helfen können und dass Sie sich nicht für Dinge verantwortlich fühlen möchten, die nichts mit Ihnen zu tun haben, dann sind das Werte. Und wenn Sie denen folgen, wird das langfristig in Ihnen und in Ihrer Beziehung Klarheit schaffen.
Herzliche Grüße
Julia Peirano