100. Geburtstag: Autor und Aktivist: Warum James Baldwin auch 37 Jahre nach seinem Tod bewegt

Der Schrifsteller James Baldwin prägte unseren Blick auf rassistisches Unrecht. Zum 100. Geburtstag einer amerikanischen Bürgerrechts-Ikone, deren Kampf noch nicht vorbei ist.

Einer seiner erstaunlichsten Texte erzählt nicht von einer prekären Kindheit in Harlem, nicht vom bedrückenden und gewaltsamen Rassismus der USA, nicht vom Leben als Homosexueller in den prüden 60ern. Der Essay „Fremder im Dorf“ handelt von James Baldwins Besuch im entlegenen Alpendorf Leukerbad, von wo sein zeitweiliger Liebhaber stammte. „Nach dem mir verfügbaren Informationsstand hatte kein schwarzer Mann vor mir dieses kleine Schweizer Dorf jemals betreten“, schreibt er. Schnell rufen ihm die Kinder das N-Wort hinterher, betatschen mit Neugier sein Haar, machen den Besucher zur „Sehenswürdigkeit“. Sie könnten nicht wissen, “welche Echos sie damit in mir auslösen. Sie platzen vor Übermut, und den Beherzteren schwillt vor Stolz die Brust, wenn ich stehen bleibe, um mit ihnen zu reden.“

Schwarz und schwul in einer Gesellschaft, die ausgrenzt

James Baldwin war schwarz, und er war schwul, und dies in einer ausgeprägt rassistischen wie homophoben Gesellschaft. Er nahm seine zahllosen Ausgrenzungserfahrung als Basis eines literarischen und auch politischen Lebenswerks, das bis in die Gegenwart strahlt. 

Das Internet ist voller Zitate des 1987 verstorbenen Literaten, Popstars wie Madonna und Morissey berufen sich auf ihn und bedienen sich seiner prägnanten Sätze. Linke Identitätspolitik stilisiert ihn nun zum Vordenker, ohne seine Nuancen und seine Abneigung gegenüber allem Ideologischen zu respektieren. Selbst die Pro-Palestine-Bewegung unserer Tage meint, in ihm posthum einen Verbündeten entdeckt zu haben. 

Auf dem Weg ins Weiße Haus: James Baldwin beim Empfang für Nobelpreisgewinner 1962 in Washington DC.
© Pond5 Images

Der Dokumentarfilm des haitianischen Regisseurs Raoul Pecks „I Am Not Your Negro“ brachte Baldwin 2017 in den Fokus einer jüngeren Generation. Besonders seine legendären Talkshow-Auftritte wurden ins Netz gestellt und seitdem Millionenfach abgerufen. Zu Baldwins Talenten gehörte es, nicht nur schriftlich, sondern auch verbal von großer Eindrücklichkeit zu sein. Und von jener erstaunlichen Zeitlosigkeit im Stil.

Bücher über Rassismus

Während seine bedeutenden Zeitgenossen im Bürgerrechtskampf, wie etwa die elf Jahre ältere Rosa Parks, die Mitte der Fünfziger verweigert hatte, einem Weißen in einem Bus den Platz zu räumen und damit einen Sturm entfachte, der fünf Jahre jüngere spätere Nobelpreisträger Dr. Martin Luther King, oder dessen radikales Gegenbild Malcolm X, seit langem deutlich historische Figuren mit abgeschlossener Wirkkraft geworden sind, strahlt Baldwin mit unglaublicher Präsenz in die Gegenwart. Vielleicht auch deshalb, weil er bei aller Klarheit seiner Haltungen, auch das Verbindende, vielleicht sogar mit der Möglichkeit des Versöhnlichen im Blick behielt. Vor allem aber nie für eine Generation allein stand, sondern stets indiviuell für sich.

James Baldwin: Zeuge einer Zeit von Gewalt, Ausgrenzung, Hass

Rechtzeitig zu seinem 100. Geburtstag ist nun der biografische Essay „James Baldwin. Der Zeuge“ des deutschen Kulturjournalisten René Aguigah erschienen, der im Vorwort darauf verweist, sich als Sohn einer Deutschen und eines Togolesen ausdrücklich nicht aus afroamerikanischer Perspektive nähern zu können. Aguigah hat selbst ein ausgesprochen zeitgemäßes Werk geschaffen, das diese essayistische Biografie aus der Perspektive heutiger Diskurse zu erzählen weiß. Und sich kritisch mit der Frage auseinandersetzt, inwiefern Baldwin zu jenem Propheten taugt, als der er zurzeit gerne stilisiert und auch mitunter missbraucht wird. 

„Ich bin überhaupt nicht antisemitisch, aber Antizionist“, hatte Baldwin zwar geschrieben, sich nach einer Israel-Reise vor dem Sechstagekrieg im Jahr 1967 aber durchaus freundlich über das Land geäußert, sagte Aguigah der Wiener Zeitschrift Falter. „Mit jeder Ikonisierung geht eine Reduktion von Komplexität einher“, so der Biograf.

Coming Out und Auswanderung

Doch was steckt wirklich in Baldwin und seinem Werk, das über Projektionen hinaus so aktuell wirkt? Als er unter dem Namen James Arthur Jones am 2. August 1924 geboren wird, ist die Menschheitsschande der Sklaverei in den USA gerade einmal eine Generation vorbei. Die Identität seines Vaters sollte er nie erfahren, also schafft es sich eine literarische Vaterfigur, in seinem erstem Roman 1953 „Von dieser Welt“.

Das Coming Out des Stiefsohns eines Baptistenpredigers, dessen Namen er angenommen hatte, ist von ungewöhnlicher Klarheit. Ebenso der Schritt, als 24-Jähriger seinem bisherigen Umfeld den Rücken zu kehren und mit 40 Dollar in der Tasche nach Europa, „auf die Straßen von Paris“ zu gehen, wie er betonte. In seinem berühmten Interview mit dem Fernsehsender ABC, das heute allein bei Youtube 3,3 Millionen Likes versammelt, formuliert er diese für ihn typischen eindrücklichen, unbarmherzigen Gedanken, die einen nicht so schnell loslassen. Etwa, dass jeder Weiße lügen würde, der nicht eingesteht, keinesfalls unter den Gegebenheiten als Schwarzer leben zu wollen- „Schwarze waren nicht überrascht, dass Weiße zu so was wie dem Holocaust in der Lage waren“, lautet ein weiterer Satz, der einen anhand seiner bitteren Klarheit erschüttert zurücklassen muss.

Rückkehr als Literaturstar und politische Stimme

Aus seinem Pariser Exil war James Baldwin mit dem teils expliziten Werk „Giovannis Zimmer“ zurückgekehrt, und seinem wohl bedeutendsten Roman „Ein anderes Land“, der über den Emanzipationskampf in einer streng gläubigen afroamerikanischen Familie erzählt. Und als literarische Größe. Obwohl er zu einer der bedeutendsten Stimmen der Bürgerrechtsbewegung wird, bleibt er zu seinem Heimatland auf Distanz. Nach den Morden an Anführern der schwarzen Emanzipationsbewegung, evakuierte er sich schließlich selbst zurück nach Paris.

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Sind es wirklich seine „universalistischen Überzeugungen“ trotz der Zeugenschaft von Gewalt und Unrecht, wie es bei René Aguigah heißt? „Baldwin, der Hass so gut kannte“ habe in seinen Romanen und Essays „an der Liebe als Hoffnung“ festgehalten. Oder ist es dieser Mut, der eigenen Verzweiflung freien Lauf zu lassen? Es sind Einsichten über kongruente Identitäten, die uns bis  heute aufs Neue bewegen. 

Noch einmal sein Blick auf die Schweizer Dorfbewohner in Leukerbad: „Auch die Ungebildetsten unter ihnen haben auf eine Art, die mir verwehrt ist, eine Beziehung zu Dante, Shakespeare, Michelangelo, Aischylos, da Vinci, Rembrandt und Racine; die Kathedrale von Chartres bedeutet ihnen etwas, was sie mir nicht bedeuten kann, so wie es sicher auch das Empire State Building tun würde, falls jemand von hier es je zu Gesicht bekäme“, schreibt Baldwin. Aus ihren Kirchenliedern und Tänzen wären Beethoven und Bach hervorgegangen. Vor wenigen Jahrhunderten hätten sie ihre Blüte erreicht. „Ich aber war in Afrika und sah die Eroberer kommen.“