Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll mehr qualifizierte Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten nach Deutschland locken. Zumindest bei einer Gruppe ist ein leichter Anstieg erkennbar.
Das Auswärtige Amt hat im ersten Halbjahr dieses Jahres mehr als 80.000 Visa für Menschen ausgestellt, die in Deutschland arbeiten wollen. Etwa die Hälfte von ihnen – mehr als 40.000 – sind Fachkräfte, wie die Deutsche Presse-Agentur aus dem Ministerium erfuhr. Zum Vergleich: Im Vorjahreszeitraum wurden rund 37 000 Visa an Fachkräfte erteilt.
Im gesamten Jahr 2023 hatte das Auswärtige Amt den Angaben zufolge über 157.000 Visa zu Erwerbszwecken ausgestellt, davon gingen 79.000 Visa an Fachkräfte.
Chancenkarte steht noch am Anfang
Die sogenannte Chancenkarte, die zum 1. Juni eingeführt wurde, hat noch keinen großen Einfluss auf die Zahl der Erwerbsmigranten. Bisher seien knapp 200 Visa nach dieser Rechtsgrundlage erteilt worden, hieß es aus dem Auswärtigen Amt.
Voraussetzung für die Chancenkarte ist eine im Erwerbsland staatlich anerkannte, mindestens zweijährige Berufsausbildung oder ein entsprechender Hochschulabschluss sowie Sprachkenntnisse in Deutsch oder Englisch. Je nach Sprachniveau, Berufserfahrung, Alter und Deutschlandbezug bekommen Interessierte Punkte, die sie zum Erhalt der Chancenkarte berechtigen. Auch für Qualifikationen in Engpassberufen gibt es Punkte. Wer genügend Punkte hat, kann nach Deutschland kommen und hat dann ein Jahr lang Zeit, sich einen festen Job zu suchen. Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine einmalige Verlängerung um zwei Jahre möglich.
Der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Peter Adrian, übt Kritik an diesem System: „Eine Chancenkarte soll Menschen für ein Jahr die Chance geben, in Deutschland einen Job zu suchen. Die Voraussetzungen für die Chancenkarte sind allerdings zu komplex. Ich glaube nicht, dass man mit dieser Variante viele Fachkräfte zu uns locken kann“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
Arbeiten ohne vorherige Anerkennungsverfahren
Deutschland hat seit 2020 ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, um den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte zu fördern. Im November 2023 trat der erste Teil einer von der Ampel-Koalition beschlossenen Reform dieses Gesetzes in Kraft. Er umfasste vor allem Erleichterungen bei der „Blauen Karte EU“ sowie für anerkannte Fachkräfte.
Seit März können Fachkräfte mit Abschluss und Berufserfahrung ohne vorheriges Anerkennungsverfahren einreisen und in Deutschland arbeiten. Sie müssen also noch keine in Deutschland anerkannte Ausbildung vorweisen, aber ein Arbeitsplatzangebot mit einem Bruttojahresgehalt von mindestens 40 770 Euro – bei Tarifbindung des Arbeitgebers genügt eine Entlohnung gemäß Tarifvertrag.
Wirtschaft für eine andere „Willkommenskultur“
Die Wirtschaft begrüßt das neue Gesetz grundsätzlich. „Es ist aber zu kompliziert. In der praktischen Anwendung hinken wir hinterher“, meint DIHK-Präsident Adrian. Er spricht sich für eine andere „Willkommenskultur“ aus. „Die Botschaft muss lauten: Wir freuen uns, euch hier in Deutschland begrüßen zu können.“ Das fange bei der Visa-Erteilung an und höre bei der Bereitstellung von Wohnung und Kinderbetreuung auf. „Wir haben hier in vielen Bereichen Defizite.“
Eine Ende Mai von der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) vorgelegte Konjunkturumfrage ergab, dass über die Hälfte der Unternehmen den Fachkräftemangel aktuell als Geschäftsrisiko angeben – häufig genannte Risiken waren daneben hohe Energie- und Rohstoffpreise und die schwache Inlandsnachfrage.
Industrie: „We want you“
Auch Industriepräsident Siegfried Russwurm sieht Nachbesserungsbedarf bei der Umsetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes. „Die Aufgaben fangen bei den Botschaften und Konsulaten an. Jeder kennt das amerikanische Plakat „We want you!“ So müssen wir auch denken und handeln. Diese Willkommenskultur muss sich bis zur kommunalen Ausländerbehörde in der Stadt oder im Landratsamt durchziehen.“
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gibt Bürgerinnen und Bürgern aus EU-Staaten das Recht, ihren Arbeitsplatz innerhalb der Europäischen Union frei zu wählen. Wie viele Menschen aus Staaten, die nicht zur EU gehören, zum Arbeiten nach Deutschland kommen, hängt auch davon ab, wie aufwendig die Beantragung eines Visums für sie ist und wie lange Antragsteller bei einer deutschen Auslandsvertretung auf einen Termin warten müssen. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es dazu, Visa für Fachkräfte würden vorrangig bearbeitet. Bis zum 1. Januar 2025 solle das nationale Visumverfahren umfassend digitalisiert sein.