Knapp zwei Wochen nach der vorgezogenen Neuwahl ist die französische Nationalversammlung am Donnerstag in Paris erstmals zusammengetreten und hat mit der Wahl ihres Vorsitzenden begonnen. Der kommunistische Abgeordnete André Chassaigne lag in der ersten Runde mit 200 Stimmen vorn. In der zweiten Runde führte die bisherige Vorsitzende Yaël Braun-Pivet von der Präsidentenpartei Renaissance mit 210 Stimmen vor Chassaigne mit 202 Stimmen. Es wird damit gerechnet, dass sich die Abstimmung bis spät in den Abend zieht.
Alterspräsident José Gonzales eröffnete die Parlamentssitzung mit einer Hommage an die sieben Toten des Wohnungsbrandes in Nizza, der möglicherweise mit dem Drogenhandel in dem Viertel in Verbindung steht. Die neuen oder wiedergewählten Abgeordneten nahmen in alphabetischer Ordnung Platz, da die Fraktionen erst später gebildet werden. So kamen auch mehrere politische Erzfeinde nebeneinander zu sitzen.
„Es beginnt eine Zeit, in der die Nationalversammlung im Herzen der Politik steht“, sagte Gonzales, bevor er zur Wahl aufrief. In den ersten beiden Runden muss ein Kandidat die absolute Mehrheit erreichen, in der dritten Runde reicht die relative Mehrheit. Für die späteren Runden können sich auch Kandidaten melden, die an der ersten Runde nicht teilgenommen haben.
Braun-Pivet kam in der ersten Runde auf 124 Stimmen. Der stellvertretende RN-Chef Sébastien Chenu kam in der zweiten Wahlrunde auf 143 Stimmen. Die 577 Abgeordneten werden namentlich zur Stimmabgabe aufgerufen und müssen einzeln nach vorn kommen, um ihre Stimmen abzugeben.
Dabei kommt traditionell dem jüngsten Abgeordneten die Aufgabe zu, neben der Urne zu stehen und den Wählenden anschließend die Hand zu schütteln. Mehrere Abgeordnete verweigerten dies jedoch, da der 22-jährige Flavien Termet der rechtspopulistischen Partei Rassemblement National (RN) angehört.
Um 18.00 Uhr lief zudem die Frist ab, bis zu der sich die Fraktionen aufstellen müssen. Derzeit zeichnet sich die Bildung von elf Fraktionen in der Nationalversammlung ab, eine mehr als zuvor und damit eine neue Höchstzahl. Die neuen Fraktionen geben erste Hinweise auf eine mögliche Regierungsmehrheit. Bislang war dies schwer möglich, weil die Zugehörigkeit vieler Abgeordneten noch unklar war.
Präsident Emmanuel Macron hatte die Neuwahlen zum Parlament nach dem Triumph des rechtspopulistischen RN bei der Europawahl angesetzt. Aus der Wahl gingen drei Blöcke hervor, die jeweils die absolute Mehrheit verfehlten und deren Programme kaum miteinander vereinbar sind. Bis ein neuer Premierminister ernannt ist und eine neue Regierung gebildet wird, bleibt daher die bisherige Regierung von Premierminister Gabriel Attal geschäftsführend im Amt.
Das linke Wahlbündnis Neue Volksfront, das 192 Mandate eroberte und damit als Sieger aus der Parlamentswahl hervorging, konnte sich bislang nicht auf einen Kandidaten für das Amt des Premierministers einigen. Zudem spaltet es sich in der neuen Nationalversammlung in mehrere Fraktionen auf: Die Linkspopulisten haben nach der jüngsten Zählung 72 Abgeordnete, etwas weniger als in der vorherigen Legislaturperiode, aber sie bilden damit immer noch die größte Fraktion innerhalb des Bündnisses. Mehrere Abweichler wechseln in die Fraktion der Grünen. Die Sozialisten verdoppeln die Zahl ihrer Abgeordneten auf 66, unter ihnen auch Ex-Präsident François Hollande.
Das Regierungslager, das drei Parteien umfasst, hat nur noch 165 Abgeordnete, vor den vorgezogenen Wahlen waren es noch 250 gewesen. Zu ihnen zählen auch Premierminister Attal und mehrere weitere Regierungsmitglieder. Nach der französischen Verfassung dürfen Regierungsmitglieder eigentlich nicht gleichzeitig Abgeordnete sein. Es gibt aber eine Ausnahme für Mitglieder einer Regierung, die nur geschäftsführend im Amt ist. Dies ist der Fall, seit Macron den Rücktritt der Regierung am Dienstag angenommen hat.
Der rechtspopulistische RN kommt auf 123 bis 126 Abgeordnete, deutlich mehr als die 88 vor der Wahl. Er wird unterstützt von der Fraktion um den abtrünnigen Chef der Republikaner, Eric Ciotti, die 16 Abgeordnete umfasst.