Sportpsychologin : Zwischen Selbstgeißelung und Schiri-Schelte – über unseren Umgang mit dem Verlieren

Niemand möchte ein Verlierer sein. Dennoch gehören Niederlagen zum Leben. Kathrin Seufert ist Sportpsychologin und weiß, wie erfolgreiches Scheitern gelingt und was wir von Spitzensportlern lernen können.

Bei der Fußball-Europameisterschaft zeigt sich wieder: Das Verlieren ist nicht einfach. Mal ist der Rasen schuld, mal der Schiedsrichter. Psychologen haben beobachtet, dass wir Erfolge gern als die unseren feiern, Niederlagen aber lieber auf andere schieben – und das nicht nur im Sport, sondern auch in der Partnerschaft oder im Job. Warum sind wir so, Frau Seufert?
Dahinter steckt ein bisschen Selbstschutz. Statt zu sagen, heute war ich nicht ganz auf der Höhe, war dann eben der Frankfurter Rasen nicht optimal. Anders beim Gewinnen, da möchte man ein Stück vom Kuchen abhaben – von den positiven Emotionen und Endorphinen.

Manche Menschen haut eine Niederlage völlig aus den Socken, andere scheinen aus Rückschlägen sogar Energie zu ziehen. Wie kommt das?
Der Umgang mit Niederlagen ist so unterschiedlich wie die Menschen, die sie erleben. Das hat viel mit den eigenen Ansprüchen, den gesetzten Zielen und unserer Persönlichkeit zu tun. 

Inwiefern?
Wenn ich mir vornehme, ich möchte drei Treppenstufen schaffen, ist das was anderes, als wenn ich mir zehn Etagen vornehme. Und natürlich spielt es eine Rolle, welche Wichtigkeit ich dem gesteckten Ziel beimesse. Wenn es mir egal ist, ob ich das Ziel erreiche oder nicht, wird mich das Nichterreichen auch nicht belasten. Aber: Ist keine Herausforderung da, ist das Selbstwirksamkeitserleben, das „Ich hab’s geschafft, ich habe mich entwickelt“, nicht möglich. Eine höhere Zielsetzung ist also wichtig, um überhaupt Kompetenzen weiterentwickeln zu können. Kein Spitzensportler wäre ohne eine gewisse Härte mit sich selbst so weit gekommen.Neuer Inhalt 

Gibt es so etwas wie erfolgreiches Scheitern?
Retrospektiv betrachtet bestimmt, wenn man es zum Beispiel schafft, aus einer Niederlage etwas mitzunehmen, was einem dabei hilft, für die Zukunft besser gewappnet zu sein. Das kann eine vermeintliche Schwachstelle sein, an der man, nachdem man sie einmal ausgemacht hat, gezielt arbeitet.

Können Spitzensportler mit Niederlagen besser umgehen?
Wenn man häufig mit Rückschlägen umgehen muss, entstehen Lerneffekte. Michael Jordan hat einmal gesagt: „In meiner Karriere habe ich über 9000 Würfe verfehlt. Ich habe fast 300 Spiele verloren. 26-mal wurde mir der spielentscheidende Wurf anvertraut und ich habe ihn verfehlt. Ich habe immer und immer wieder versagt in meinem Leben. Deshalb bin ich erfolgreich.“ Das trifft es ganz gut. Übung macht den Meister. Auch ein Arzt muss nach einem Rückschlag sofort wieder funktionieren. 

Beim ersten Mal ist das Verlieren dramatisch, beim 100 Mal kaum noch relevant?
Wenn wir zum ersten Mal ein Turnier oder einen Job verlieren, wissen wir nicht, wie wir damit umgehen sollen, die Situation ist neu für uns. Haben wir etwas einmal durchlebt, gibt uns das die Chance, im Rückblick zu schauen, was uns hindurch geholfen hat. So baut sich ein Repertoire auf, auf das man beim nächsten Mal zurückgreifen kann. Je häufiger man solche Situationen erlebt, desto größer ist dieses Repertoire. Kommentar Cucurella 12.25

Der Trick ist also schnöde Reflektion?
Eine Chance, an einer Niederlage zu wachsen, hat jeder. Ob sie auch genutzt werden kann, ist allerdings von verschiedenen Faktoren abhängig – dazu gehört Zeit und eine gefestigte Persönlichkeit. Erlebt man innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von Rückschlägen, in denen ein kurzes Innehalten und Zurückblicken nicht möglich ist, ist es auch schwer, diese zu verarbeiten.

Welche Rolle spiel Selbstbewusstsein im Umgang mit dem Verlieren?
Selbstbewusstsein, also ein Bewusstsein für die eigenen Fähigkeiten, spielt bei der richtigen Einordnung des Geschehenen eine große Rolle. Es kann zum Beispiel entscheidend dafür sein, ob ein Fußballer bei einem Rückstand in Minute 120 noch daran glaubt, ein Tor machen zu können oder eben nicht.

Muss man sich selbst verzeihen können, um ein guter Verlierer sein?
Es ist eine hilfreiche Eigenschaft, wenn man sich die Niederlage selbst zuschreibt – zum Beispiel, wenn man ein Eigentor verantwortet hat. Die Frage ist allerdings, ob es überhaupt etwas zu verzeihen gibt. Manchmal hat man auch einfach Pech.Interview Elfmeter-Experte 20.12

Ist eine Niederlage im Team genauso schlimm wie eine individuelle – oder gilt da tatsächlich: Geteiltes Leid ist halbes Leid?
Das kann man pauschal so nicht sagen. Natürlich gibt es in einem Team immer Verbündete, mit denen man sprechen kann. Aber die Perspektiven der Einzelnen sind extrem unterschiedlich. Die Situation eines Jamal Musiala, der sicher noch ein paar Turniere vor sich hat, ist zum Beispiel eine ganz andere als die eines Toni Kroos, Thomas Müller oder Manuel Neuer, für die es das letzte Turnier gewesen sein könnte.

Die Emotionen der Sportler auf dem Platz sind das eine, die der Fans etwas ganz anderes. Nach dem EM-Aus der deutschen Mannschaft im Viertelfinale haben viele einen ganz klaren Schuldigen ausgemacht: den Schiedsrichter. Es wurde gar eine Petition zur Wiederholung des Spiels gestartet Wie erklären Sie sich eine solche Reaktion?
Das Ausscheiden der Mannschaft bedeutet, dass die Euphorie, die im Land entstanden war und die Zeit des Mitfieberns plötzlich enden. Viele Menschen versuchen dieses Ende auf Krampf zu verhindern. Also wird – auch aus dem Gefühl einer Ungerechtigkeit heraus – ein Verantwortlicher gesucht. In dem Fall ist es für viele der Schiedsrichter. Das liegt auch an unserer Zeit und dem Wunsch, für einen Moment mal nicht an die schrecklichen Dinge denken zu müssen, die auf der Welt passieren. Dem Wunsch nach guten Nachrichten.