Für Englands Fußball-Nationaltrainer GarethSouthgate geht es im Endspiel der EM 2024 nicht nur um den Gewinn des Pokals. Es geht auch die Wiedergutmachung eines Traumas, das er seit über 28 Jahren mit sich herumträgt.
Es ist schon kurz vor Mitternacht an jenem 26. Juni 1996, als sich Gareth Southgate im Wembley-Stadion den Ball am Elfmeterpunkt zurechtlegt. Er geht neun Schritte zurück und nimmt Anlauf. Mit der rechten Innenseite zielt er flach auf die linke Torecke. Aber der Schuss ist seltsam schwach, dazu noch ungenau. Deutschlands Torhüter Andreas Köpke ist rechtzeitig unten, er hat keine Mühe, zu parieren. Southgate schaut einen Moment mit leerem Blick in Richtung Tor, dann geht er langsam zurück zum Mittelkreis.
Ein Fehlschuss. Ein Schuss, der ein ganzes Leben verändern wird.
Deutschland gewinnt dadurch das Elfmeterschießen im Halbfinale der EM 1996, wird danach Europameister in England, die ganze Welt sieht Oliver Bierhoff, wie er sich nach seinem „Golden Goal“ im Finale über den Platz stürmend jubelwild das Trikot vom Leibe reißt. Die Engländer nur Zuschauer im eigenen Land, beim Glück der anderen.
Gareth Southgates großer Fehlschuss: Bei der EM 1996 vergab er gegen Deutschland einen Strafstoß – ein Makel, der ihm bis heute anhaftet
© Colorsport
Elfmeter 1996: Die große Schuld des Gareth Southgate
Und das alles nur durch seine Schuld, seine große Schuld.
„Ich habe unter Druck versagt. Alle haben darunter gelitten“, sagt Gareth Southgate Jahre später. „Ich trage einen persönlichen Schmerz in mir, der sich wohl nie ändert.“
Die Dämonen der Vergangenheit. Southgate trägt sie mit sich herum, so wie sie ja ganz England mit sich herumträgt, all die Niederlagen, Verletzungen, Demütigungen über Jahrzehnte. Den letzten und einzigen großen Titel holte die stolze Fußballnation, die der Welt nach eigenem Verständnis das faszinierende Spiel erst geschenkt hat, 1966.
Eine halbe Ewigkeit ist das her, ein Triumph noch in schwarz-weiß. Das dritte Tor von Wembley, Bobby Moore, Bobby Charlton, Geoff Hurst, Martin Peters und all die anderen, auf Ehrenrunde unter den huldvollen Blicken der Queen. In der Verlängerung war der Himmel über London damals aufgerissen, der „Coupe Jules Rimet“ glänzte golden, die Sonne strahlte an jenem Spätnachmittag über dem satten Grün, strahlte über Fußall-England, wie sie nie wieder strahlen sollte, fast sechs Jahrzehnte lang.
Sie strahlte danach immer nur über andere, nicht über England, nicht über Gareth Southgate – trotz oder gerade wegen der 57 Länderspiele, die er selbst im Trikot der „Three Lions“ absolviert hat. Auf der Insel sprechen sie nur von den „years of hurt“, den Jahren des Schmerzes. Und vielleicht sind sie genau deshalb in Hassliebe mit diesem Mann verbunden, der jetzt ihre Nationalmannschaft als Cheftrainer ins Finale der EM geführt hat. Southgate, das wandelnde kollektive Trauma, Mensch gewordener nationaler Schmerz.
Er ist Cheftrainer seit dem Herbst 2016. Er hat die englische Nationalmannschaft zurückgeführt auf die großen Bühnen des Weltfußballs. Bei drei von vier großen Turnieren erreichte England mit ihm seit der WM 2018 das Halbfinale, zwei Mal sogar das Endspiel. Das ist eine Bilanz, von der man beim DFB nur träumen kann. Aber auf der Insel nimmt man ihm bis heute übel, dass er beim EM-Finale 2021 gegen Italien im eigenen Land extra fürs Elfmeterschießen Spieler einwechselte, die dann versagten. Für Unmut sorgt auch, dass er sein Weltstar-Kollektiv mit Kickern wie Jude Bellingham und Harry Kane einen eher spröden Defensiv-Fußball spielen lässt – und nicht so wie die Spanier mit sonniger Leichtigkeit Gala-Vorstellungen auf den Platz zaubert.
EM 2024: Englands Fußball unter Southgate ist abwartend und skeptisch
In der Tat bevorzugt Southgate einen Fußball der Skepsis, des Abwartens und Fehler-Vermeidens. Es ist der Fußball eines Menschen, der nicht das Gefühl hat, dass das Leben es gut mit ihm meinen könnte. Sondern, dass das Glück mit Vorsicht und Kalkül dem Leben abgepresst werden muss. Den ewigen Elfmeter-Versagern von der Insel verpasste er eine „Task Force“ Elfmeter-Schießen, wissenschaftliche Analysen wurden ausgewertet, Fachleute zu Rate gezogen. Mit Erfolg: England hat von den letzten vier Elfmeter-Schießen drei gewonnen.
Das ganze Nachwuchs-Fördersystem hat Southgate neu aufgesetzt. Mentaltrainer, Yoga- und Atemexperten angeheuert. Er hat Fußball-England versucht zu vermitteln, dass die Großmäuligkeit der eigenen Ansprüche nicht passt zu dem, was dort an taktischer Entwicklung und Talentförderung über Jahre verpasst wurde. Das sind alles Dinge, die man nicht gerne hört in einem englischen Pub, wo spätestens nach dem dritten Ale das Gefühl vorherrscht, dass andere Nationen sich ungebührlich einmischen, weil sie auch noch mitspielen wollen in einem Spiel, das doch eigentlich den Engländern gehört.
Nach dem deprimierenden 0:0 gegen Slowenien in der Vorrunde warfen Englands „Supporter“ mit Bierbechern nach ihm. Vor dem Halbfinale gegen die Niederlande in Dortmund feierten sie ihn – in Gestalt eines deutschen Bereitschaftspolizisten, der das Pech (oder Glück?) hatte, Southgate erstaunlich ähnlich zu sehen.
Jetzt das Finale gegen die Fußball-Weltmacht Spanien, in Berlin. All die Wunden der Vergangenheit, sie können heute, mit diesem einen Spiel, geheilt werden. All die Dämonen können besiegt werden, alles, was ihn so quält. „Ich will so sehr gewinnen, dass es weh tut“, hat Gareth Southgate vor diesem Spiel gesagt.
Der Mann, der 1996 durch seinen Fehlschuss dafür sorgte, dass Deutschland in England den EM-Titel holen konnte, kommt als Trainer zurück – und kann für England in Deutschland den Titel holen. Er verkörpert die Hoffnung auf Erlösung. Und läuft doch immer auch als Gespenst der Vergangenheit durch die Gegend.
Vor dem Turnier zeigte er seinen Spielern die alten Bilder vom WM-Sieg 1966. Und erinnerte daran, wie das damals wirklich war. Schwache Vorrunde, ein 0:0 gegen Uruguay, glanzlose Siege gegen Mexiko und Frankreich. Knappe, hart erarbeitete Erfolge danach gegen Argentinien und Portugal. Und was es für einen Ärger gab, weil Chefcoach Alf Ramsey den erfolgreichsten Torjäger der Insel, Jimmy Greaves, nach der Vorrunde auf der Bank ließ. Ramsey setzte lieber auf Hurst. Der schoss im Finale drei Tore. Ramsey verzichtete auch auf klassische Flügelstürmer. Das sorgte für Entsetzen. Am Ende schwärmten alle vom „Wingless wonder“, vom Wunder ohne Flügel – und Ramsey wurde zum „Sir“ geadelt. Eine bronzene Statue mit seinem Kopf erinnert heute in den Katakomben von Wembley an den großen Mann.
Sven-Göran Eriksen wendet sich an Gareth Southgate
Am Freitag hat der ehemalige englische Nationaltrainer Sven-Göran Eriksen einen Brief im „Telegraph“ veröffentlicht. Eriksen ist 76 Jahre alt und unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. „Man hört so viel über 1966 und das Team von Sir Alf Ramsey. Sie wissen, wie groß die Erwartungen an Sie sind, all diese Jahre voller Schmerzen zu beenden“, schreibt Eriksen. „Tu es, Gareth. Tu das, was wir alle nicht tun konnten.“
Wenn Southgate es heute Abend tut, ist England erlöst – und er selbst. Gut möglich, dass sie seinen Kopf dann ebenfalls in Bronze gießen. Und direkt neben dem von Ramsey aufstellen. Mit Bierbechern beworfen – und dann verewigt in Wembley, dem Allerheiligsten des englischen Fußballs. Mehr geht nicht. Mehr passt nicht rein in ein Fußball-Leben.
EM Taktik Analyse Escher 13:19
All das wäre Stoff für einen großen Roman. Gareth Southgate, der Mann, dem die Leichtigkeit des Seins abgeht. Der, hinter dem Vorhang stehend, immer anderen zuschauen muss, bei ihrem sonnigen Glück. In sich eingesperrt, wissend um den eigenen, stillen Reichtum, den er in sich trägt. Und doch unglücklich über die Begrenztheiten der eigenen Existenz. Die er vielleicht endlich aufsprengen kann, an diesem einen Abend. Heute. Jetzt. Im Olympiastadion von Berlin. Oder nie mehr.
Schade, dass Thomas Mann nicht mehr lebt.