Der Pirnaer Oberbürgermeister Tim Lochner verglich die Regenbogenflagge mit dem Hakenkreuz. Der Christopher Street Day am Samstag könnte deshalb zum größten in der Stadtgeschichte werden. Aber sind die Demonstranten dort auch sicher?
Der Mann, wegen dem am Samstag Tausende ins sächsische Pirna strömen könnten, zeigt sich am Tag davor nur für einen kurzen Moment. Mit hastigen Schritten läuft Tim Lochner, die Ärmel des hellblauen Hemdes hochgekrempelt, aus dem Tor seines Rathauses in ein gegenüberliegendes Verwaltungsgebäude. Die Metall hämmernden Bühnenbauer, die Kisten schleppenden Ehrenamtlichen würdigt er kaum eines Blickes.
Was hält der erste von der AfD nominierte Bürgermeister Deutschlands vom queeren Straßenfest, dem Christopher Street Day (CSD), das am Samstag rund um sein Rathaus stattfinden soll? „Kein Kommentar“, sagt Lochner. Schon ist er hinter einer Glastür verschwunden.
Dabei hatte sich Lochner schon einmal ausführlich zu dem Straßenfest geäußert, bei dem für die Gleichstellung sexueller Minderheiten demonstriert wird. Da hatte sich die Pirnaer Marienkirche gerade bereit erklärt, anlässlich des CSD eine Regenbogenflagge am Kirchturm zu hissen. Weil der neue Oberbürgermeister sie nicht wie in den Jahren davor vor dem Rathaus aufhängen will.
Am Freitag wird die Bühne des CSD Pirna aufgebaut
© Valentin Dreher/stern
In einem nächtlichen Post auf Facebook schrieb Lochner daraufhin: „Wenn wir ganz tief recherchieren, werden wir Belege finden, dass auch Fahnen mit Kreuz und Haken an der Marienkirche hingen.“ Die Regenbogenflagge als Nachfolge des Hakenkreuzes? „Es war eine Staatskirche, es ist eine Staatskirche“, so Lochner weiter.
Den Post löschte der OB später. Doch da zirkulierte er längst im Internet. Prominente wie Hape Kerkeling riefen zur Teilnahme an der Veranstaltung in Pirna auf, der Queer-Beauftragte der Bundesregierung will persönlich vorbeikommen. Eine Dragqueen aus Köln plant, mit einem gut gefüllten Reisebus in die 40.000-Einwohner-Stadt zu fahren, auch aus Berlin sind Busse angemeldet.
Bis zu 20.000 Menschen in Pirna erwartet
Der meistbeschäftigte Mann der Stadt ist an diesem Freitag Christian Hesse, Vorsitzender des Pirnaer CSD-Vereins. Denn Hesse muss den Aufbau des CSD koordinieren: Die Bühnenwand bitte hier hin, die Schirme könnt ihr dort ablegen, das Kabel muss hier entlang. Dabei weiß selbst Hesse nicht, für wie viele Menschen er all das gerade aufbauen lässt. Vergangenes Jahr kamen 200 Leute zum Pirnaer CSD. Dieses Jahr ist das selbstgesteckte Ziel des Vereins, 20.000 nach Pirna bringen. Nicht vollkommen unrealistisch, dem Oberbürgermeister sei Dank.
CSD-Vorsitzender Christian Hesse ist am Freitag wohl der meistbeschäftigte Mann der Stadt
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Solch eine Teilnehmerzahl hätte Symbolwirkung. Denn wer am Samstag auf den Markplatz kommt, tut es nicht nur für eine gute Party, sondern auch, um ein Zeichen gegen die AfD zu setzen. Bei den Kommunalwahlen im vergangenen Monat gewann die rechtsextreme Partei im Pirnaer Stadtrat ein Drittel aller Sitze. Was am Samstag allerdings ähnlich ins Gewicht fallen wird wie die Teilnehmerzahl: Ob all diese Menschen in Pirna sicher feiern können.
Im vergangenen Jahr habe es mindestens einen Einschüchterungsversuch gegeben, berichtet Zoe Hetmeier vom queeren Verein „Gerede“. Sie war damals mit einer Gruppe aus Dresden angereist. „Gegenüber des Bahnhofs hatten sich schon Jugendliche positioniert, die gleich nach unserer Ankunft den Hitlergruß in unsere Richtung zeigten“, sagt sie. Die seien ihrer Gruppe dann noch ein Stück lang gefolgt, ehe sie in den Gassen der Altstadt verschwanden.
Weder dem CSD-Verein noch der Polizei ist dieser Vorfall bekannt, doch er deckt sich mit Erfahrungen anderer queerer Demonstrationen in Sachsen. Sowohl in Zittau als auch in Wurzen berichten Teilnehmer von ähnlichen Drohgebärden aus rechten Jugendgruppen. Im nahen Dresden versuchten im Mai Rechtsextreme der Organisation „Elblandrevolte“, die mutmaßlich auch am Angriff auf den Europaabgeordneten Matthias Ecke (SPD) beteiligt waren, den CSD zu stören.
Vorfälle wie diese sind der Grund, warum CSD-Organisator Hesse dieses Jahr besonderen Wert auf Sicherheitsvorkehrungen legt. Um den Markplatz lässt er einen Zaun aufbauen, an den Eingängen werden Taschen kontrolliert. Auch die Polizei will mit deutlich mehr Einsatzkräften vor Ort sein als in den vergangenen Jahren.
Pfarrer in Pirna bekam Morddrohung
In Pirna gab es noch einen weiteren Vorfall, eine Morddrohung, die zeigt: Im Fadenkreuz des Hasses steht nicht nur, wer selbst einer sexuellen Minderheit angehört. Sondern auch jene, die sich solidarisieren. Im Mai nahm der Pfarrer der Marienkirche an einer kleinen Kundgebung anlässlich des Tages gegen Homophobie teil. Später postete jemand ein Bild von ihm auf der Kundgebung und dazu den Satz: „Für den Pfarrer nur noch neun Millimeter.“ Der Durchmesser einer Pistolenpatrone. Mittlerweile ermittelt der Staatsschutz wegen Bedrohung gegen einen 65-Jährigen.
Kirchenintendantin Brigitte Lammert erzählt so ruhig von diesem Vorfall, dass man ihr eine gewisse Abgeklärtheit unterstellen mag. „Das ist es nicht“, sagt sie. Sie könne darüber so trocken reden, weil sie sich seit Lochners Antritt jeden Tag mit der Polarisierung der Stadt auseinandersetzen müsse. „Gleich nach seiner Wahl hat Herr Lochner die Kirche zu seinem Gegner erklärt. Er nennt uns in einem Satz mit der Antifa.“ Die Fronten in Pirna sind damit wohl geklärt.
Die Superintendantin des Kirchenbezirks Pirna, Brigitte Lammert, wuchs als Tochter von Kirchenmusikern in der DDR auf
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Seit Montag hängt die Regenbogenflagge nun am Mast des Kirchturms. Wenn der Wind sie zur Seite weht, kann man sie aus dem Fenster des kleinen Pfarramts sehen. Dort kann man auch Brigitte Lammert fragen: Sollte sich die Kirche eigentlich politisch positionieren? Sie muss über die Antwort nicht lange nachdenken: „Ja.“
Dafür hat Lammert zwei Begründungen, eine stammt aus der Bibel, eine aus ihrem Leben. Zum einen sei die Kirche schon immer politisch gewesen, schon Jesus habe sich schließlich um Ausgegrenzte gekümmert. Zum anderen ist sie in der ostdeutschen Kirche der 80er-Jahre groß geworden, einen der wichtigsten Orte des zivilen Widerstands gegen das DDR-Regime. Als dann im Mai der Pfarrer für seine Unterstützung queerer Menschen im Netz angeschwärzt wurde, habe das bei ihr alte Erinnerungen geweckt. „Da flackerte schon ein bisschen hoch, was wir als Kirchengemeinden damals mit der Stasi erlebt haben.“
„In der Bibel gibt es nur Adam und Eva“
Gerade erst ist Brigitte Lammert mit ihrem regenbogenfarbenen Schirm über dem Arm in der Straße hinter der Kirche verschwunden, da erregt die wehende Flagge die Aufmerksamkeit von zwei Mädchen. Perlenketten, Handtaschen, lange Wimpern. „Ach du Scheiße!“, ruft die eine, zückt ihr Handy und macht ein Foto. „Das ist echt übertrieben“, findet auch ihre Freundin. Was stört sie denn so an der Flagge?
„Also in der Bibel gibt es ja auch nur Adam und Eva, warum hängt dann sowas an einer Kirche?“, sagt die 16-Jährige und schüttelt den Kopf. „Ich habe wirklich nichts gegen sowas, aber es muss ja nicht so präsentiert werden.“
Sätze wie diesen hört man in Pirna häufiger. Doch auch Pirnaer, die am Samstag selbst am Straßenfest teilnehmen möchten, umtreibt eine Sorge: Wenn tatsächlich 20.000 Menschen nach Pirna kommen, verkraftet die kleine Stadt das dann? Ralf Wätzig, SPD-Stadtrat und erklärter Unterstützer des CSDs, sagt: In Pirna gäbe es viele, die zwar nicht selbst zum Straßenfest gingen, aber auch nichts gegen die Veranstaltung hätten. „Wenn das hier zu viele Menschen werden, zu schrill, dann kippt das vielleicht in Ablehnung“, fürchtet er.
Ferda Ataman in Sachsen und Thüringen 18:56
Eines der Mädchen auf dem Marktplatz sagt am Ende noch: „Wir haben auch einen Mitschüler, der sein Geschlecht geändert hat. Das war für uns nie ein Problem.“
Jugendliche in Pirna haben Angst vor Coming-Out
Wenn es doch nur immer so einfach wäre. Zoe Hetmeier vom Dresdner Verein „Gerede“ kennt die andere Seite. Sie berät in Pirna Jugendliche, die gerade eine Geschlechtsumwandlung durchlaufen. Doch viele von ihnen würden sich nicht trauen, mit Klassenkameraden oder der Familie darüber zu sprechen, aus Angst vor Ausgrenzung. „Die Betroffenen können ja eins und eins zusammenzählen“, sagt Hetmeier. „Wenn viele Pirnaer einen queerfeindliche Partei wählen, haben vermutlich auch viele von ihnen selbst etwas gegen queere Menschen.“
Einige Betroffene hätten gar Angehörige, die in den sozialen Medien diskriminierende Posts der AfD teilten. Und Lehrkräfte, die sagen: „Bei uns gibt es doch gar keine queeren Jugendlichen.“ So fühlten sich viele der Betroffenen unsichtbar.
CSD-Vorsitzender Hesse glaubt: Auf dem CSD am Samstag muss sich niemand verstecken. Rechte Störungen oder Anfeindungen erwartet er nicht. Kirchenintendantin Lammert hat trotzdem schonmal angekündigt: Die Tür ihrer Kirche stehe allen Teilnehmern des CSD offen. Nur für den Fall der Fälle.