Warum ich die Christdemokratisierung einer Grünen-Abgeordneten für beinahe normal halte und wusste, dass die Ampel nicht am Haushalt zerbricht.
Seit drei Monaten bin ich inzwischen für den stern auch in der Hauptstadt journalistisch tätig, also in jener oft als Blase bezeichneten Parallelwelt, für die es neuerdings sogar ein echtes „Playbook“ gibt. So heißt jedenfalls der Newsletter von „Politico“, der gemeinsam mit vielen anderen Newslettern jeden Morgen meinen E-Mail-Ordner befüllt.
Im „Playbook“ kann ich zum Beispiel erfahren, wen ich in der Invalidenstraße an Halbwichtigem gesehen haben könnte, wenn er mir denn bekannt gewesen wäre, oder dass beim Empfang, zu dem ich mal wieder nicht eingeladen wurde, der Prosecco nicht kalt genug war.
Nun will ich, zumal als Ostdeutscher, nicht undankbar wirken: Aber ein Routenplaner für das Jakob-Kaiser-Haus, kurz JKH, wäre da neukundenfreundlicher, und bitte gleich als App mit GPS.
Meine erste eigene Verschwörungstheorie
Das JKH ist eines jener monströsen Bürogebäude rund um den Bundestag, in denen Abgeordnete und ihre Mitarbeiter untergebracht sind. Es besteht aus Räumen, aber vor allem aus einem verwirrenden Gefüge von Fluren, Etagen, Fahrstühlen, Treppen und Schildern, die man nicht versteht. Noch immer muss ich jedes Mal eine halbe Stunde Navigationszeit einplanen, um dort das Büro eines Bundestagsmitglieds zu finden.
Ich muss eben noch viel lernen. Einerseits. Andererseits besitze ich als jemand, der in Thüringen lebt und dort mein halbes Leben der landespolitischen Berichterstattung widmete, zuweilen einen Erfahrungsvorsprung gegenüber meinen neuen Kolleginnen und Kollegen in der hauptstädtischen Glitzerpolitik.
Einen Haushalt gab es trotz Nahkampf immer
So regt sich in mir keinerlei Nerv, nur weil sich ein misslauniges Dreierbündnis schwer damit tut, einen verfassungsgemäßen Haushalt auszuknobeln. Schließlich wurde dies in Erfurt in jedem verdammten Jahr geübt, wobei ab 2019 erschwerend hinzukam, dass die arg gerupfte rot-rot-grüne Koalition keine Mehrheit mehr im Landtag besitzt. Seitdem wurde, wenn nicht gerade die AfD einen Ministerpräsidenten wählte, jede Etatverhandlung zum Nahkampf zwischen der Minderheitskoalition und der CDU. Einen Haushalt gab es trotzdem immer.
Auch über die grüne Bundestagsabgeordnete Melis Sekmen, die selbst ausgewiesenen Blasen-Kennern erst in dem Moment bekannt wurde, als sie zur CDU rübermachte, kann ich mich nicht einmal im Ansatz empören wie meine überaus geschätzte stern-Kollegin Miriam Hollstein. Charakterlos sei dieser Schritt, meinte sie. Wenn die Frau schon die Partei wechsle, dann sollte sie doch bitte schön ihr Listenmandat abgeben.
Natürlich hat sie damit, moralisch, ethisch und demokratietheoretisch betrachtet, total recht. Bloß wäre dieser Kommentar insbesondere am schönen Thüringen komplett vergeudet. Denn hier hat der politische Wechsel schlechte Tradition. In jeder der jüngeren Legislaturperioden verließen Abgeordnete ihre Parteien und traten in andere ein.
Im gegenwärtigen Landtag existiert ein besonders schillerndes Wechselexemplar. Erst war der Abgeordnete in der AfD, dann in einer kurzlebigen Gruppe der inzwischen verflossenen Kleinstpartei Bürger für Thüringen, um schließlich exklusiv für sich selbst die sogenannte Handwerker Partei Deutschland zu gründen, deren einziger Mandatsinhaber er nun ist.
Der innere Sozialdemokrat des AfD-Abgeordneten
Sie halten das für erstaunlich oder gar verrückt? Dabei habe ich Ihnen noch gar nicht von jenem bizarren Abgeordnetentransfer erzählt, der sich in der vergangenen Wahlperiode ereignete. Damals verließ ein gewisser Oskar Helmerich die AfD-Fraktion, um danach binnen Wochen seinen inneren Sozialdemokraten zu entdecken.
Die SPD war flugs von der Ehrlichkeit des Erfurterlebnisses überzeugt. Immerhin beruhte die Mehrheit der rot-rot-grünen Koalition unter dem linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow nur auf einer einzigen Stimme. Und, huschdiwusch, war Helmerich erst in die Fraktion aufgenommen und wenig später auch in der Partei von August Bebel, Willy Brandt und, hüstel, Gerhard Schröder.
Buchauszug Thüringen 1230
Doch jetzt, ich hoffe, Sie sind noch dabei, wird die Geschichte erst so richtig interessant. Denn der damalige Thüringer CDU-Landesvorsitzende Mike Mohring erspürte die Chance und überredete die SPD-Abgeordnete Marion Rosin, gleichsam im Gegenzug in seine Fraktion zu wechseln.
Das von ihm erwünschte Ergebnis: Von nun an beruhte die einzige Linke-geführte Regierung der Republik auf der Stimme Helmerichs, also eines Mannes, der Seit an Seit mit Björn Höcke die Thüringer AfD aufgebaut hatte. Zum verständlichen Ärger von Mohring fand diese bizarre Konstellation in Berlin kaum größere Beachtung, während später die Wahl des Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich mithilfe der AfD zum Nahezu-Ausbruch des Faschismus hochkommentiert wurde.
Die Lehre der Vera Lengsfeld
Am Ende, so viel Karma muss sein, funktionierte der sozialdemokratische Opportunismus nicht. Die Partei verlor bei der Landtagswahl ein Drittel ihrer Stimmen und auch ihr Mitglied Helmerich, der er es für eine charmante Idee gehalten hatte, im Wahlkampf Thilo Sarrazin einzuladen. Im Ergebnis schaffte er es genauso wenig in den neuen Landtag wie Marion Rosin.
Es ist eben manchmal nicht so einfach mit der politischen Wechselei. Vielleicht hätte Melis Sekmen, bevor sie sich für ihr neues, christdemokratisches Leben entschied, Vera Lengsfeld konsultieren sollen. Die einstige Abgeordnete wurde, wie könnte es anders sein, in Thüringen geboren, und ist das letzte lebende Bundestagsbeispiel für einen Wechsel von den Grünen zur Union. 1996 war das.
Mittlerweile ist Lengsfeld, die sich in der Werteunion engagierte, auch aus der CDU ausgetreten. Ihr Schritt stieß dort auf merkliche Erleichterung.